Hinter der Tür: Die Kunst der Umsetzung – Teil II: Oder doch das amerikanische Happy End?

In der Literaturadaption Hinter der Tür überlässt István Szabó nichts dem Zufall. Mit seinem wörtlich genommenen roten Faden verfolgt der Regisseur dementsprechend dem Hauptthema des Buches, der Liebe: rotes Feuer, rotes Blut, eine rote Mütze und rote Leuchte. Um den Verrat besonders hervorzuheben, dienen zur Veranschaulichung sowohl Detailaufnahmen als auch Geräusch- und Musikuntermalungen. Neben der Kamera visualisiert zudem der Schnitt und die Montage István Szabós Interpretation der Geschichte. Der harte Schnittwechsel imitiert das episodenartige Erzählen, Ab- und Aufblenden rhythmisieren den Film.

Weitere Leitmotive wie der Wind und die Stille symbolisieren die berüchtigte „Ruhe vor dem Sturm“ (TÜR 100). Als Magda und Évike am Ende bei stürmischen Regen auf dem Friedhof stehen und um Verzeihung bitten, reißt kurz darauf der Himmel auf. Aufgrund dessen könnte der Eindruck entstehen, dass sich hier der Kreis schließt und für Magda die Geschichte doch noch ein gutes Ende nimmt. Das berühmte Happy End. Jedoch sei es nicht Magda Szabós Absicht gewesen, nach ihrem schriftlichen Geständnis auf Erlösung zu hoffen. Deshalb wird ihr anfänglich beschriebener Traum auch am Ende wiederholt: „Immer träume ich ein und dasselbe. […] Der Schlüssel dreht sich im Schloß. Doch ich bemühe mich vergebens“ (TÜR 303).

István Szabó schafft es durch sein Ende, ein weiteres Thema des Romans zu illustrieren: Den Glauben an Gott und das Jenseits. Der Himmel öffnet sich nicht, weil Magda von ihrer Schuld erlöst werden soll, sondern um abermals ihre Erkenntnis zu illustrieren. Emerenc verspottet Magda für ihre „einwöchige Religiösität“ (TÜR 182) und hegt laut Magda anscheinend „eine leidenschaftliche Feindseligkeit“ (TÜR 30) gegenüber Gott. Und obwohl Emerenc es leugnet, ehrt sie „Gott durch ihre Taten“ (TÜR 179). Für Magda wird Emerencens vollkommene Gläubigkeit erst am Totenbett bewusst. „Sie glaubte also doch ans Jenseits“ (TÜR 282), äußert Magda in ihren Gedanken, als Emerenc in ihrer Enttäuschung davon redet, dass sie über Magda gewacht hätte, hätte sie sie einfach sterben lassen. Doch jetzt wäre es zu spät.

Dass der Regisseur ein so eindeutiges Ende von einer fortwährenden Schuld ins Positive wandeln würde, erscheint dem Publikum als unwahrscheinlich. Doch handelt es sich um Szabós Interpretation und sein Wille der Umsetzung von Farbgebung, Licht und Mimik. Bereits auf der Filmhochschule lernt er von seinem Lehrer Félix Máriássy die künstlerische Disziplin der Regie kennen.[1] Die wohl wichtigste Frage, die ihn fortan begleitet, lautet: „[W]arum das oder jenes, warum so oder so?“[2]. Im Zuge dessen wird für Szabó erstmals die Unendlichkeit der filmischen Gestaltung vor Augen geführt. Entgegen der Annahme, dass der Film zu sehr von Hintergrund, Gegenständen, Licht und Farbe beeinflusst wird, um wie im literarischen Text, Dinge und Figuren detailliert und kraftvoll in Szene setzen zu können, schafft es Szabó mit seiner Gestaltung dem Vorurteil entgegenzuwirken.

Mit seiner Adaption gelingt es István Szabó das Anschauen eines Films aktiv zu gestalten und sich der Annahme, der Film sei aufgrund vorgegebener Bilder und Töne rein passiv, entgegenzustellen. Angesicht der literarischen Visualisierung geht das Publikum beim Anschauen von „Hinter der Tür“ wie bei der Rezeption eines Schrifttextes vor.[3] Um seiner eigenen Adaption gerecht zu werden, sind für Szabó insbesondere „die Großaufnahme […] wichtig und künstlerisch die Schauspieler“[4]. Des Weiteren herrschen grundsätzlich minimale Gestaltungstechniken für die Erzählung vor. Im Gegensatz zu einer Abwertung des Begriffs „einfach“, definiert Szabó: „Einfach“ hat nichts zu tun mit „primitiv“, „einfach“ heißt, das, was man erzählen möchte, dicht und klar zu zeigen“[5]. Aufgrund seiner „dicht und klar“[6] erzählten Gestaltung, treten besonders Raum, Licht, Charaktere und Musik in den Vordergrund. In ihrer Gestaltung liegen sie ebenso einer Interpretation des Regisseurs zugrunde, wie der Schrifttext der Autorin. Wie bei einem Buch offenbart sich die Auflösung eines Films für die einen erst nach dem zweiten oder dritten Mal Lesen beziehungsweise Anschauen, für andere wiederum gar nicht. Mit dem Anschauen eines Films interpretiert das Publikum nun die Interpretation des Regisseurs. Die Verkettung deutet bereits auf eine unmögliche Einigkeit hin.

Abschließend ist zu sagen, dass der Film ebenso wie die Literatur und Malerei eine eigenständige und erwachsene Kunstform repräsentiert. Ob das Publikum sich jemals in einer Interpretation und dem einhergehenden Kunstgedanken einigt, gleicht einer utopischen Vorstellung. Ohnehin besitzt István Szabó oftmals den Eindruck, dass die Zuschauer ihn nicht richtig verstehen und er nicht klar genug in seiner Gestaltung ist. Zwar ist es sein Wunsch, für alle präzise zu sein. Doch: „[M]anchmal führt mich […] Klarheit und Deutlichkeit in eine Richtung, die nicht wirklich gut ist. […] Ein Kunstwerk muss immer Geheimnisse haben.“[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Eric TERRADE auf Unsplash


[1] Vgl. John Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe (eBook), New York 2014, Kap. 2, Abs. 4.
[2] István Karcsai Kulcsár: István Szábo, Düsseldorf 1978, S. 9.
[3] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10.
[4] Sandra Theiß: Taking Sides – Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 325.
[5] Ebd., S.323f.
[6] Ebd., S.323f.
[7] Ebd., S. 327.

Hinter der Tür: Die Kunst der Umsetzung – Teil I: Der Regisseur als Autor

2011 wird der Roman Hinter der Tür[1] in einer deutsch-ungarischen Koproduktion unter der Regie von István Szabó, der ebenfalls mit seiner Co-Autorin Andrea Vészits das Drehbuch schreibt, adaptiert. Die Kameraführung des 95-minütigen Dramas übernimmt nicht der an der Seite Szabós bekannte Lajos Koltai, sondern erstmals der mehrfach ausgezeichnete Kameramann Elemér Ragályi.[2] In seiner Literaturadaption Hinter der Tür (Originalfilmtitel: The Door) arbeitet István Szabó die Beziehung zwischen Magda (Martina Gedeck) und Emerenc (Helen Mirren) aus, die aufgrund von Herkunft und Lebensumstände jeweils ihre eigenen Konventionen ausleben. Als Emerenc bei Magda als Haushaltshilfe anfängt, entsteht eine ambivalente Beziehung, die von einem stetigen Wechsel von Fürsorge und Zurückweisungen, von Liebe und Schuld geprägt ist. Die größte Grenze ist jedoch Emerencens Haus.[3]

Szabó entscheidet sich bei seiner Adaptionsart sowohl für die „Illustration“ als auch für die „interpretierende Transformation“. Neben der illustrierten Übernahme von Figurenkonstellation, Handlung sowie zahlreiche Dialoge, interpretiert Szabó zunächst das Geschriebene, um es dann in ein neues Zeichensystem zu setzen. Ziel ist es, mit seiner Interpretation seine Erfahrungen, was er gesehen und erlebt hat, weiterzugeben.[4] So lautet seine Devise: „Wenn ich nichts zu sagen habe, kann ich keine Filme machen“.[5]

Szabós wesentliche Regieambition besteht darin, „Emotionen und Gedanken, die ganz plötzlich entstehen, auf der Leinwand sichtbar zu machen“.[6] Zunächst ermöglicht er durch die Normalsicht eine direkte Teilhabe des Publikums am Geschehen. Zudem visualisiert die auf Augenhöhe konzipierte Einstellung die ebenbürtige Stärke beider Hauptprotagonistinnen. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren werden die jeweiligen Reaktionen gleichermaßen gegenübergestellt. Um die Emotionen und Gefühlsregungen nochmals hervorzuheben, dominieren Nah- und Großaufnahmen. Mittels langsamer Kameraschwenks und langem Verharren auf den Gesichtern wird somit die Mimik zum Haupterzähler.

Durchaus lässt sich eine filmische Umsetzung der subjektiven Meinung und Innenwahrnehmung der Ich-Erzählerin schwierig gestalten. Die Autorin erzählt ihre Geschichte aus der Retrospektive und verfügt daher über mehr Informationen, um ihre Schuld verarbeiten zu können. Aufgrund dessen ergibt sich die Möglichkeit von einwerfenden Kommentaren, die ihr Verhalten entschuldigen oder ihre Schuld deutlich hervorhebt: „Ich sagte mir, dieses schreckliche Unbehagen und die unerträgliche Spannung seien Lampenfieber, dabei war es nur mein Schuldbewußtsein“ (TÜR 219). Um Magdas Innenwahrnehmung auffassen zu können, lässt Szabó diese mittels anderer Figuren aussprechen. Beispielsweise durch den Ehemann Tibor, der durch seine Funktion als Magdas Sprechrohr im Gegensatz zum Buch als dritter Hauptcharakter fungiert. Neben dem Voice-Over und der subjektiven Kamera wird für die Illustrierung von Magdas Gedanken eine weitere Technik, die des Mindscreens, verwendet. Magda bietet sich zum Ende hin die Möglichkeit, Emerenc die Wahrheit zu beichten. Anstatt dessen entscheidet sich Magda für die Lüge. Darauf wird parallel zu ihrem zweiten Verrat ihre Vorstellung, wie es hätte richtig ablaufen müssen, illustriert. Mittels dieser Einstellung unterstreicht der Regisseur das Fehlverhalten der Autorin.

Szabós Gestaltungstechniken, von Farbfiltern über Kameraführung und -schnitt bis hin zur Musikuntermalung entsprechen einer unwillkürlichen Funktion. Nichts ist dem Zufall überlassen. Unter anderem der Visualisierung von Magdas Wahrnehmung: „[B]loß bemerkte ich wieder einmal nicht, daß sich düstere Wolken am Horizont zusammenzogen, daß es die Ruhe vor dem Sturm war“ (TÜR 100). Bereits im Intro wird auf diese Wahrnehmung Bezug genommen. Dramatisch aufziehende dunkelblaue Gewitterwolken werden kurzzeitig von Emerencens Erscheinung unterbrochen. Gezeigt ist sie beim Fegen, mit Einkaufstüten in der Hand oder „mit einer Schüssel Essen zu einem Kranken unterwegs“ (TÜR 26). Die kurzen Sequenzen sind mit einem warmen orangefarbenen Filter überzogen. Angesichts des Komplementärkontrasts von Blau und Orange wird das Publikum direkt auf die Ambivalenz der Beziehung gestoßen, die von Wärme und Kälte, aufkommender Helligkeit und Dunkelheit geprägt ist.

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Mitch Nielsen auf Unsplash


[1] Textgrundlage der folgenden Aufführung ist: Magda Szabó: Hinter der Tür, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,TÜR‘ und Seitenangabe.
[2] Vgl. Beiheft – Jenö Hábermann und Sandor Söth (Produzenten) & István Szabó(Regisseur). (2011) Hinter der Tür [Film]. Deutschland/Ungarn: Filmart Filmstúdió und Intuit Pictures.
[3] Vgl. Beiheft und Filmcover – (2011) Hinter der Tür [Film].
[4] Vgl. Sandra Theiß: Taking Sides – Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 325.
[5] Ebd., S. 325.
[6] Ebd., S. 325.

Magda Szabós Hinter der Tür – Ein Verrat an die Liebe

Die ungarische Schriftstellerin Magda Szabó ist für ihr Thema der Trauerbewältigung bekannt.[1]

Diesem Thema widmet sich ebenso ihr autobiographisch verfasster Roman Hinter der Tür[2] (Originaltitel: Az ajtó) aus dem Jahr 1987, der von der ambivalenten Beziehung der ungarischen Schriftstellerin selbst zu ihrer Haushaltshilfe Emerenc Szeredás, dessen Figur an die ehemalige Haushälterin Juliska angelehnt ist, handelt.[3] Als erzählendes Ich nimmt die Schriftstellerin eine Zentralstellung in der Retrospektive ein und reflektiert ihr falsches Handeln gegenüber Emerenc. Dafür offenbart sie bereits zu Anfang für den Tod ihrer Haushaltshilfe verantwortlich zu sein. „Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß [sie] sie nicht umbringen, sondern retten wollte“ (TÜR 9).

„Allzu verheißungsvoll“ (TÜR 11) beginnt die Beziehung der beiden nicht. Magda, eine intellektuelle Schriftstellerin, der weltlichen und kirchlichen Instanz zugehörig, zieht in den 1960ern mit ihrem Mann Tibor nach Budapest. Als Haushaltshilfe wird ihnen Emerenc empfohlen, die mit ihrem „wunderliche[n] Verstand“ (TÜR 19) ihrer eigenen Logik von Zeit und Nähe folgt. Während sie in einem Moment von ihrer tragischen Vergangenheit spricht, tritt sie der Schriftstellerin im nächsten Moment mit „Gleichgültigkeit“ (TÜR 42) gegenüber.

Magda fühlt sich, aufgrund dem ihr widersprüchlich wirkendem Verhalten von sanften Zärtlichkeiten und plötzlichen „Zurückweisung[en]“ (TÜR 18), oftmals wie ein „unerzogene[s] und begriffsstutzige[s] Kind“ (TÜR 29) behandelt und folglich missverstanden. Trotzdem legt sie ein eifersüchtiges Verhalten zutage, wenn Emerenc ein zärtlicheres Verhalten zu Tieren und anderen Mitbewohnern pflegt. Erst als Emerenc ihre Türen für Magda öffnet und das Geheimnis von ihren neun versteckten Katzen offenbart, obwohl „von Gesetzes wegen nur zwei erlaubt sind“ (TÜR 191), erhält Magda in ihren Augen das gewünschte Vertrauen. Nichtsdestoweniger hält es Emerenc nicht davon ab, Magda für ihre Eitelkeit und Angst, nicht akzeptiert zu werden, den Spiegel vorzuhalten. Ob sie „wieder nur mit sich beschäftigt“ (TÜR 181) sei und ob sie sich für etwas Besseres hält, fragt sie. Und indem sie den kirchlichen Glauben anprangert oder die Vorurteile Magdas dem „Kitsch“ (TÜR 97) gegenüber offenlegt, führt sie Magda ihre eigene Feigheit und Blindheit vor.

Die wohl wichtigste Wertenorm in Emerencens Leben ist ihre Vorstellung von der Liebe: „Eines müssen Sie lernen, man darf niemanden zum Bleiben nötigen, dessen Uhr abgelaufen ist. […] [U]m der Liebe willen muß man auch töten können“ (TÜR 122). Für sie erscheint es als selbstverständlich, ihrer guten Freundin Polett beim „Selbstmord“ (TÜR 112) zu helfen, Viola und ihren Katzen eine Spritze zu geben, „wenn die Zeit gekommen ist“ (TÜR 122). Denn „[d]er Tod ist barmherziger als umherzuirren und ausgestoßen zu sein“ (TÜR 191). Umgekehrt wird die Person bestraft, die Emerencens Liebe nicht zu würdigen weiß, geschweige denn hintergeht.

Schlussendlich ist auch Magda diejenige, die „den Rahmen ihres Lebens […] zerstört“ (TÜR 234). Als Emerenc sich aus der Gemeinschaft zurückzieht, empfindet Magda „kein Mitleid, kein Erschrecken, sondern einfach Wut“ (TÜR 206). Sie fühlt sich abermals zurückgewiesen. Zwei Wochen wird Emerenc nicht mehr gesehen, das von den Nachbarn vorbeigebrachte Essen von ihr nicht angerührt und ein „stechender Geruch“ (TÜR 209) geht von der Wohnung aus, sodass Magda keinen anderen Ausweg erkennt, als sie dort mit Gewalt herauszuholen. Statt jedoch selbst die Tür einzubrechen, um Emerencens Geheimnis zu wahren, lässt sie dies von anderen übernehmen und fährt selbst davon. Im Zuge dessen lässt Magda zu, dass Emerenc „bloßgestellt und entehrt“ (TÜR 234) wird. Obwohl Magda sich ihrer Schuld bewusst ist, verrät sie Emerenc ein zweites Mal an die Liebe und ihre Menschenwürde.

Nach Tagen des Vortäuschens einer „Amnesie“ (TÜR 256) traut sich Emerenc, nach ihren Katzen und dem Zustand ihres Hauses zu fragen. Doch ungeachtet von der Tatsache, dass Emerenc äußerst gefasst diese Frage stellt, vermeidet Magda ihr die Wahrheit zu sagen, um sie vor dem Tod zu schützen. Angesichts des „menschlichen und tierischen Unflat[s]“ (TÜR 222) müssen alle privaten Dinge und Wertsachen verbrannt werden. Doch mit der Zerstörung ihres einzigen Zuhauses wird Emerencens auch ihrer Identität beraubt. Ihre Vorstellung von Liebe, dass „der Tod […] barmherziger als umherzuirren und ausgestoßen zu sein“ (TÜR 191) ist, hat Magda letztendlich nicht begriffen, obwohl ein „vager Verdacht“ (TÜR 219) keimt.

Während Magda sich zu Anfang ungeliebt und nicht toleriert fühlt, ist es nun Emerenc, die im Glauben stirbt, dass Magda sie nie geliebt hat.

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Dima Pechurin auf Unsplash


[1] Vgl. Eva Haldimann: Magda Szabós Romanwelten, in: Magda Szabó: Hinter der Tür. Frankfurt am Main/Leipzig 1992, S.305-311, hier S.308.
[2] Textgrundlage der folgenden Aufführung ist: Magda Szabó: Hinter der Tür, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,TÜR‘ und Seitenangabe.
[3] Vgl. Kerstin Istvanits: Die Jugendromane von Szabó Magda – Álarcosbál (Maskenball) & Abigél (Abigail) (Magisterarb. Universität Wien 2010, Msschr.), S. 66.

(K)eine Literaturverfilmung – Zur Analyse einer Filmadaption

Dass kein Buch 1:1 in einen Film umgesetzt werden kann, da in beiden Medien das Zeichensystem und die einhergehende semiotische Differenz berücksichtigt werden müssen, ist heutzutage verstanden. Allerdings wird es noch nicht begriffen: Für viele habe sich der Film in ästhetischen Normen immer noch der Literatur anzupassen.[1] Während sich die schriftliche Lektüre verbalsprachlich ausdrückt, wird die Erzählung im Film audiovisuell illustriert. Somit unterliegt der Film anderen ästhetischen Konventionen sowie technischen Bedingungen als das Buch.[2] Aufgrund des unzulänglichen Begriffs Literaturverfilmung, der insbesondere eine externe Zuschreibung darstellt, versucht sich die Literaturwissenschaft an einen neuen Begriff. Die deutsche Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider definiert die Literaturverfilmung beispielsweise als Transformation von einem Zeichensystem zu einem anderen. Als alternativer Begriff ist aber auch die Adaption zu nennen, die sich der schriftliterarischen Vorlage anpasst.[3]

Nach dem deutschen Literaturhistoriker Helmut Kreuzer gibt es vier Arten der Literaturadaption: Bei der Aneignung von literarischem Rohstoff werden lediglich Handlungselemente oder Figuren aus der Buchvorlage übernommen. Überdies werden diese dann in einen autonomen Filmkontext umgesetzt. Die zweite Adaptionsart repräsentiert die Illustration, die bebilderte Literatur. Neben der Übernahme von Figurenkonstellation und wörtlichem Dialog, versucht sich der Drehbuchautor so weit wie im neuen Medium möglich, an den Handlungsvorgang zu halten. Allerdings darf die Illustration nicht mit der Vorstellung von Werktreue gleichgesetzt werden. So wirkt das für die Lektüre geschriebene Wort im Lesekontext anders als im Film. Als dritte Art ist die interpretierende Transformation zu nennen. Dafür wird zunächst die Aussage und dessen Wirkung aus der Textvorlage interpretiert. Anschließend wird der schriftliche Text in filmische Codes übersetzt, um ein analoges Werk zu generieren. Die letzte Art der Literaturadaption meint die Dokumentation, in dem unter anderem Theateraufführungen aufgenommen werden. Schlussendlich ist festzuhalten, dass sich die Filmadaption selten einer Reinform bedient, sondern sich aus verschiedenen Arten zusammensetzt.[4]

Bei der Transformation beziehungsweise Adaption von der Lektüre zum Drehbuch liegt der Schwerpunkt auf den Prozess der Umsetzung, der jedoch drei Beeinträchtigungen mit sich bringt. Erstens ist der Film im Gegensatz zum Buch nicht durchgehend in der Lage, die Innenwahrnehmung beziehungsweise subjektive Meinung einer Figur darzustellen, sodass häufig eine Außensicht auf die erzählte Welt gewählt wird. Zweitens werden im Film maßgeblich mehr Bewegungen im Raum sowie der Zusammenhang der Gegenstände bestimmt. Während der literarische Erzähler es schafft, die Figur detailliert und kraftvoll in Szene zu setzen, beeinflussen Hintergrund, Gegenstände, Licht und Farbe das Bild. Die Figur tritt insofern als Teilelement auf. Als letztes muss darauf hingewiesen werden, dass das filmische Erzählen konkreter vonstatten geht als das literarische Erzählen. So hat die Kamera unter anderem die Aufgabe aus Unmengen von Dingen die Reizelemente herauszulösen, die das Publikum ausschließlich informieren sollen.[5]

Letztendlich besteht die Kunst der DrehbuchautorInnen darin, die Lektüre in seine Beschränkung und Vereinfachung auf das Wesentliche zu komprimieren, das zu definieren, was sie für wesentlich halten. Dabei sollte die Kunst des Unerwarteten und Ideenreichtums nicht außer Acht gelassen werden.[6] Somit wird die Adaption und Transformation zur Interpretationsbühne der DrehbuchautorInnen und RegisseurInnen. Anders als im Buch verlangt die Erschließung des Films eine Analyse der visuellen, auditiven und narrativen Ebene sowie von deren Zusammenspiel. Insofern etabliert sich eine eigene Filmgrammatik aus Bild, Ton und Montage.[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Jon Tyson auf Unsplash


[1] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10-13.
[2] Vgl. ebd. S. 81-87.
[3] Vgl. ebd, S. 11f.
[4] Vgl. Helmut Kreuzer: Arten der Literaturadaption, in: Gast, Wolfgang (Hg.): Literaturverfilmung, Bamberg 1993, S.27-31, hier S. 27-30.
[5] Vgl. Thomas Koebner und Peter Ruckriegl: Literaturverfilmung, in: Koebner, Thomas (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 410-413, hier 410f.
[6] Vgl. Michel Chion: Techniken des Drehbuchschreibens, Berlin 2001, S. 102.
[7] Vgl. Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: Die Filmerzählung. Eine Einführung, Paderborn 2016, S. 166f.

Hytti nro 6: Eine (ärgerlich) freie Adaption

Am 29. Oktober ist die Filmadaption des Romans „Abteil Nr.6“ (Finnisch: Hytti nro 6) von Rosa Liksom in die finnischen Kinos gekommen. Die finnisch-russische Produktion des Regisseurs Juho Kuosmanen besticht durch eindringliche Bilder von rauer Schönheit und begabte Schauspieler*innen. Wer die Buchvorlage kennt und schätzt, wird allerdings enttäuscht.

Der Film erzählt von Laura, einer jungen finnischen Frau, die allein mit der transsibirischen Eisenbahn nach Murmansk reist. Eigentlich hätte ihre Lebensgefährtin, die ältere Literaturprofessorin Irina, sie begleiten sollen. Die hat aber mit der Arbeit zu tun, und so landet die angehende Archäologiestudentin in einem Abteil mit dem jungen russischen Arbeiter Ljoha. Zwischen den grundverschiedenen Reisenden entspinnt sich eine ungewöhnliche Beziehung.

Künstlerisch beeindruckt Hytti nro 6. Die Kameraführung bleibt oft nah an den Charakteren, so nah, dass man Wodka, Gurkenglas und Körpergeruch in der engen Zugkabine beinahe riechen kann. Durch abwechslungsreiche Einstellungen und Lauras Videorekorder wird die Schönheit der russischen Winterlandschaft gezeigt, die hinter den von Schnee besprenkelten Zugfenstern vorbeizieht. Die Schauspieler*innen überzeugen in ihren Rollen. Besonders Yuri Borisov verkörpert den zunächst stumpf-aggressiven Ljoha, der sich im Verlauf der Reise immer verletzlicher zeigt, äußerst glaubhaft. Dass er, anders als im Buch, kein grobgliedriger Mann mittleren Alters ist, sondern ein etwas tollpatschiger dünner Typ Anfang dreißig, stört wenig – der stereotype hartgesottene Russe wird so mit Laura (Seidi Haarla) auf eine Ebene geholt, wirkt ihr körperlich nicht überlegen. Auch dass der Film konsequent in russischer Sprache (mit finnischen Untertiteln) ist, fühlt sich stimmig an. Der finnische Akzent und das leichte Stocken in Lauras Sprechen passen sich gut ins Gesamtbild ein.

Inhaltlich aber enttäuscht die Verfilmung. Denn statt der emotionalen Komplexität des Romans, die mutig, stellenweise auch zumutend ist, finden sich im Film nur auf einfache Konzepte reduzierte Figuren: die promiskuitive lesbische Intellektuelle, die ihre junge Liebhaberin bei erster Gelegenheit fallen lässt. Die junge Frau, die auf einer Reise nach sich selbst sucht und sich unerwartet verliebt. Der halbkriminelle Arbeiter, unter dessen harter Schale sich ein wollweicher Kern verbirgt.

Während im Roman Landschafts- und Milieubeschreibungen und die schier endlosen, von Gewalt und Obszönitäten beladenen Monologe des Mannes Stimmung und Inhalt färben, wird der Film mit ein paar gewollt tiefsinnigen Sätzen gewürzt, die aber nur ins Leere führen. Denn richtige Probleme gibt es eigentlich nicht. Laura ist nicht wirklich in Irina verliebt, während der Reise wird sie das erkennen. Ljohas aggressive Übergriffigkeit verliert sich nach der ersten Filmhälfte ins Nichts. Die Trauer um den Verlust des Videorekorders, auf dem nicht nur die Reise, sondern auch die schönen Momente mit Irina festgehalten sind, hält etwa drei Sekunden. Die Leichtigkeit, die daraus resultiert, passt vielleicht in den Film, nicht aber zu den Erwartungen, die man nach der Romanlektüre an ihn heranträgt.

Die Verfilmung widmet sich der Geschichte einer jungen Frau, die noch nicht weiß, wonach sie eigentlich sucht. Es folgt eine sich zart entwickelnde Romanze, die an den unterschiedlichen Welten der Protagonist*innen scheitert. Eingebettet wird alles in die wirklich beeindruckenden Weiten und Lebenswelten des winterlichen Russlands. Wären die nicht gewesen, hätte ich gesagt: den Film habe ich sicher schon zwanzig Mal gesehen. Und vielleicht ist es das, was mich ärgert: das verschenkte Potential.

Text: Franziska Kraushaar
Bild: Julia Kadel auf Unsplash