Sprachliche Verbindungen im Laufe der Geschichte: Ungarische Lehnwörter im Deutschen

 

  1. Einleitung

Die Begegnungen der Ungarn mit den Deutschen (seit dem 9. Jh.) und die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn (seit dem 10. Jh.) brachten nicht nur kulturelle Einflüsse mit sich, sondern auch einen regen Austausch von Lehnwörtern zwischen den beiden Sprachen. Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt, um aufzuzeigen, wie Wörter wie Husar, Kutsche, Tollpatsch und Gulasch ihren Weg in die deutsche Sprache gefunden haben. Diese Wörter sind nicht nur linguistische Zeugen der deutsch-ungarischen Geschichte, sondern spiegeln auch die kulturellen Verbindungen wider.

  1. Geschichte der deutsch-ungarischen Begegnungen

Die Geschichte der deutschen Ansiedlung in Ungarn erstreckt sich über verschiedene Etappen.

Die Ungarn hatten bereits in den Jahrzehnten vor der Landnahme (895/896) Kontakt zu deutschsprachigen Volksgruppen: ungarische Truppen griffen in den frühen 860er Jahren auf Raubzügen das Ostfränkische Reich an. In dieser Zeit hatten die Ungarn mehrere Erkundungs- und Plünderungszüge im heutigen Westtransdanubien unternommen, und es ist gut möglich, dass durch diese sporadischen und losen Kontakte deutsche Wörter ins Ungarische eingeführt wurden, obwohl wir keine schriftlichen Quellen haben, die dies bestätigen.

Im 11. Jh. kamen Deutsche, darunter hohe Geistliche, Adelige und Beamte, mit Königin Gisela nach Ungarn. Ab dem 12. Jh. folgten Kaufleute, Handwerker und Bauern, die zur Entwicklung der Industrie beitrugen und u.a. die Bergmannssprache entwickelten. Sie gründeten ihre Städte in Westungarn, Oberungarn, Binnenungarn und Siebenbürgen. 

Die deutsche und ungarische Sprache hatten also Kontakte im höfisch-kirchlichen und bürgerlich-bäuerlichen Bereich: es wurden Namen sowie Wörter aus den Bereichen Religion, Adel, Kirche, Landwirtschaft und Bürgertum entlehnt. Im Laufe der Zeit spielte auch die österreichische Verkehrs- und Verwaltungssprache sowie die deutsche Standardsprache in den Sprachkontakten eine wichtige Rolle. Die Besiedlung durch Deutsche führte auch zur Verbreitung der Zweisprachigkeit, wobei deutsche und ungarische Elemente in beide Sprachen integriert wurden. Zudem studierten seit dem 14. Jh. ungarische Studenten an deutschen Universitäten und trugen zu den Sprachkontakten bei. 

Die Sprache des ungarländischen Schrifttums war bis zur ersten Hälfte des 14. Jh. Latein. Später erschienen ungarischsprachige und – hauptsächlich im Westen Ungarns – auch deutschsprachige Urkunden. Nach dem Magdeburger Recht, einer aus der Stadt Magdeburg stammenden Form des Stadtrechs, wurden in verschiedenen Städten Ungarns Rechtsbücher in deutscher Sprache verfasst: 1378 in Sillein/Zsolna, 1435-1450 in Ofen/Buda.

In Ungarn lebten und wirkten deutsche Literaten wie Liebhart Eggenfelder (1387-1457), Stadtschreiber von Ödenburg/Sopron und Pressburg/Pozsony oder der Dichter Hans Wiener aus Ödenburg/Sopron (16. Jh,).

Nach der Befreiung von der türkischen Herrschaft (1526-1686) erfolgte eine große Wanderungsbewegung von deutschen Siedlern, der sog. “große Schwabenzug”. Sie kamen in drei Wellen: unter Kaiser Karl VI. (1722-1726, Karolinische Kolonisation), unter Maria Theresia (1763-1773, Theresianische Kolonisation) und unter Joseph II. (1782-1787, Josephinische Kolonisation). Deutsche Bürger waren in ungarischen Städten zunehmend präsent, und Deutsch wurde zwischen 1784 und 1790 auch als Amtssprache Ungarns verwendet.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die ungarische Hälfte des Habsburgerreichs durch die Unterzeichnung des Friedensvertrag von Trianon (1920) unter sechs Staaten aufgeteilt. Von den ursprünglich 21 Millionen Einwohnern fanden sich mehr als 50% in den Nachbarstaaten wieder – ethnische Ungarn, aber auch Ungarndeutsche. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Großteil der Ungarndeutschen vertrieben und die, die in Ungarn blieben, trauten sich nicht, Deutsch zu sprechen. Ein großer Sprachverlust war die Folge.

Heute leben ca. 200 000 Ungarndeutsche in Ungarn und bilden die zweitgrößte ethnische Minderheit des Landes. Obwohl der Dialekt der Ungarndeutschen umgangssprachlich oft als “Schwobisch” bezeichnet wird, sprechen heute tatsächlich nur etwa 2% der Ungarndeutschen Schwäbisch.

  1. Die ungarischen Lehnwörter der deutschen Spache

Hier werden Lehnwörter vorgestellt, die im gesamten deutschen Sprachgebiet bekannt sind und ihren Weg ins Hochdeutsche gefunden haben.

  1. Husar

Der Begriff Husar tauchte im 15. Jh.in der deutschen Sprache auf und bezeichnete einen berittenen ungarischen Soldaten, später einen Angehörigen einer leichten Reitertruppe, der meist eine an ungarische Uniformen angeglichene Kleidung trug. Das Wort wurde aus dem Ungarischen entlehnt, huszár bedeutet dort einen bewaffneten leichten Reiter. Früher wurden auch in Dienste stehende berittene Räuber – Mitglieder der unter Matthias Corvinus (1443-1490) aus herumstreifenden Bauernburschen entstandenen Reiterei – huszár genannt, durch sie wurde die Bezeichnung in Europa bekannt. Im Ungarischen ist es ein kroatisches Lehnwort, hȕsār, gȕsār oder früher gursar und kursar, mit der Bedeutung ‘Seeräuber, Pirat, Freibeuter’. Diese Wörter wiederum haben ihre Wurzeln im Lateinischen mit cursarius oder corsarius, abgeleitet von lat. cursus, was ‘Lauf, Fahrt, Weg, Gang’ bedeutet.

  1. Kutsche

Das Wort Kutsche stammt ebenfalls aus dem Ungarischen: ung. kocsi ist eine Verkürzung, die im Jahr 1493 entstand. Es leitet sich von kocsi szekér ab, was ‘Wagen aus Kocs’ bedeutet. Kocs ist ein Ort im nordungarischen Komität Komárom-Esztergom, der sich auf der Strecke zwischen Wien und Buda befindet. Er diente als Station für den Pferdewechsel für den regelmäßigen Reisewagendienst zwischen den beiden Städten. Man kann sich vorstellen, dass Gruppen von Studenten aus Ungarn, die an der Universität Wien studierten, diesen bereits im 15. Jh. bestehenden Dienst oft genutzt haben. Der Wagen aus Kocs war leicht und wurde von drei Pferden gezogen. Im Deutschen wurde die Kutsche anfangs als Cotschien Wägnen, Gutschenwagen, Gotschiwagen, Gotzig Wegen, oder Kutzschwagen bezeichnet, später entstanden die Wörter Gutsche, Gotzi, Kotsche und Kutze.

  1. Tollpatsch

Ein Tollpatsch ist heute ein ungeschickter, unbeholfener Mensch. Mit dem ungarischen Wort talpas ‘mit Sohle versehen; breitsohlig, groß-, breitfüßig’ – abgeleitet von ung. talp ‘Sohle’ – wurde im 17. Jh. ein ungarischer Infanterist, der anstelle der Schuhe breite, mit Schnüren befestigte Sohlen an den Füßen trug, bezeichnet. Im Oberdeutschen entwickelte sich im 18. Jh. zunächst die Bedeutung ‘Soldat des österreichisch-ungarischen Heeres, der nur unbeholfen deutsch spricht’. Ende des 18. Jh. entstand mit der Verbreitung des Wortes im übrigen deutschen Sprachgebiet die Bedeutung, die wir heute kennen.

  1. Gulasch

Gulasch ist ein Gericht aus Ungarn, bestehend aus Fleischwürfeln in einer mit Paprika gewürzten Soße. Das Wort Gulasch ist im Deutschen seit der Mitte des 19. Jh. bekannt und wurde über österreichische Vermittlung aus dem Ungarischen entlehnt. Das ungarische gulyás ist wiederum eine verkürzte Form von gulyás hús, was ein scharf gewürztes Fleischgericht bezeichnet. Dieses Gericht wurde traditionell von Rinderhirten in einem Kessel gekocht, daher auch der Name Rinderhirtenfleisch. Die ungarischen Wörter gulyás und gulás ‘Rinderhirte’ leiten sich von gulya und gula ‘Rinderherde’ ab.

  1. Schlussfolgerung

Die Erforschung dieser Lehnwörter und der deutsch-ungarischen Sprachkontakte zeigt eine spannende Geschichte und enge Verbindung zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen. Sprache und Kultur verbinden Menschen über Grenzen hinweg und prägen sich gegenseitig. Dieser fortlaufende Einfluss ist bis heute spürbar und bereichert beide Sprachen. Es stellt sich die Frage, wie diese anhaltenden sprachlichen und kulturellen Austausche zwischen Ländern auch in Zukunft unsere globale Vernetzung gestalten und neu definieren werden.

  1. Quellen

Fichtner, Karin: Die Donauschwaben. https://blog.stud.uni-goettingen.de/finnougristik/2018/03/22/die-donauschwaben, abgerufen am 07.07.2023.
​​
Gerstner, Károly: Német jövevényszavak. In: Kőszeghy, Péter – Tamás, Zsuzsanna (red.): A magyar régiség művelődéstörténetének adatbázisa (a kezdetektől a 18. század végéig). http://mamul.iti.mta.hu/MAMUL6/mamul_view.php?editid1=176, abgerufen am 07.07.2023.

Mollay, Karl – Bassola, Peter (2004): XIX. Das Deutsche Im Sprachenkontakt I: Systematische Und Soziologische Aspekte: 206. Ungarisch/Deutsch. In: Sprachgeschichte 4 Teilband: Ein Handbuch zur Geschichte der Deutschen Sprache und Ihrer Erforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Band 2.4). 3218-3229.

OpenAI (2023): ChatGPT (Version 3.5). https://openai.com, abgerufen am 06.07.2023. 

Wolfgang Pfeifer et al. (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. https://www.dwds.de/d/wb-etymwb, abgerufen am 06.07.2023.Wissen.de: Wahrig Herkunftswörterbuch: Tollpatsch. https://www.wissen.de/wortherkunft/tollpatsch, abgerufen am 06.07.2023.

Titelbild: Than, Mór: Pihenő Károlyi-huszárok. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Than_Karolyi_huszarok.jpg#/media/Fájl:Than_Karolyi_huszarok.jpg, Public Domain

Text: Erik Duchnowski, Boston University Academy, Boston (USA)

Finnougristik – ein untypisches Praktikum

Liv Kallender, Schülerin am Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, war im März 2023 während der Semesterferien für ein zweiwöchiges Schnupperpraktikum an unserem Seminar. In ihrem Bericht schreibt sie über ihre Erfahrungen als Praktikantin.

Ich wurde vor meinem Praktikum tatsächlich öfter auf dieses angesprochen und gefragt, was ich dort an der Göttinger Universität machen würde und was Finnougristik überhaupt sei. Tatsächlich wusste ich dies im Voraus selber nicht so genau, die Wahl meines Praktikums fiel eher spontan aus und die Thematik des Seminars kannte ich selbst, um ehrlich zu sein, auch nicht. Doch die „Stellenanzeige“ für ein Schüler*innenpraktikum am Finnisch-Ugrischen Seminar weckte mein Interesse und nachdem ich mich erkundigt hatte, entschied ich mich, dort mein Berufspraktikum zu absolvieren. Denn die Finnougristik und die genannten Tätigkeitsfelder während des Praktikums nannten Aspekte, die mich sehr interessierten.

Tätigkeitsbereiche

Genau diese Aspekte – das Verfassen von Blogbeiträgen, Erforschung fremder Kulturen, Sprachen und Literaturen und das Arbeiten an Universitäten – wurden dann auch während meines Praktikums aufgegriffen. Schon von Beginn an, ab meiner Einführung in das Seminar und meiner ersten Aufgabe, dem Verfassen eines Blogbeitrags zu Minna Canth, bereitete mir die Arbeit am Seminar viel Spaß. Ich widmete mich anfangs dem Studierendenblog und verfasste nach dem Beitrag zu Minna Canth zwei Beiträge zu Sándor Petőfi, einem ungarischen Dichter. Auch die dazugehörigen Recherchen sind höchst interessant für mich gewesen. Ab der Mitte der ersten Woche beschäftigte ich mich mit der Thematik des Seminars und dessen Vorbereitungen des Unterrichts und legte dabei ein besonderes Augenmerk auf das Volk der Udmurten. Die kommenden Tage vervollständigte ich meine Notizen zu diesem Thema, legte passende PowerPoint-Folien an und arbeitete nebenbei an einem Blogbeitrag zur Parlamentswahl in Finnland. In den letzten Tagen meines Praktikums widmete ich mich meinem selbst ausgesuchten Themenfeld, den Frauenrechten in Ungarn. Hierzu recherchierte ich und verfasste zu den Rechten der Frau und zu Homosexualität in Ungarn drei Blogbeiträge, die nach meinem Praktikum publiziert wurden. Allgemein kann ich sagen, dass meine Tätigkeiten sehr interessant waren und mir viel Spaß bereitet haben. Auch diese jetzt im Nachhinein anhand von öffentlichen Beiträgen zu sehen, ist eine super schöne Erfahrung und Erinnerung an diese.

Erwartungen

Meine Erwartungen, die eigentlich nur daraus bestanden, die Zeit zu genießen, die Thematik besser kennenzulernen und Spaß bei den bevorstehenden Arbeiten zu haben, wurden übertroffen. Außerdem lernte ich während meiner Zeit am Seminar wichtige Sachen, die mir in Zukunft, vor allem im Schul- und Berufsleben, weiterhelfen werden, das wissenschaftliche Arbeiten ist hierbei mein wichtigster Aspekt.

Wie man bereits merkt, war das Praktikum eine sinnvolle Erfahrung für mich, die in positiver Erinnerung bleiben wird, auch auf meinen Berufs- beziehungsweise Studiumswunsch gesehen. Den Praktikumsplatz kann ich nur jeder Person mit ähnlichen Interessen weiterempfehlen, aber auch Schüler*innen, die mal an eine Universität wollen oder auch einfach mal etwas Neues kennenlernen möchten. Hierbei möchte ich vor allem die Mitarbeiterinnen des Seminars herausheben, die nicht nur sehr sympathisch sind, sondern auch immer ein offenes Ohr für Fragen hatten und somit immer Hilfe geleistet haben. Es war sehr schön, mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Zusammengefasst bin ich sehr dankbar für meine positiven Erfahrungen, die Menschen, die mich am Seminar während der Zeit begleitet haben und auch für alles, was ich dazugelernt habe.

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach

Bist auch du an einem Praktikum bei uns interessiert? Du kannst dich jederzeit dafür bewerben. Eine Ausschreibung mit den wichtigsten Informationen findest du auf unserer Homepage.

Titelbild: Brooke Cagle auf Unsplash

Minna Canth – Finnlands erste Feministin

Der sogenannte Minna-Canth-Tag oder auch der tasa-arvon päivä (zu deutsch: Tag der Gleichstellung) jährt sich in Finnland dieses Jahr am 19. März zum 16. Mal. Die Namensgeberin Ulrika Wilhelmina Johnsson (1844-1897) war sowohl Finnlands erste bekannte Schriftstellerin als auch Frauenrechtlerin. Ihr Oeuvre umfasste Kurzgeschichten, Novellen, Theaterstücke sowie journalistische Werke.

In ihrem Leben übernahm sie diverse Rollen, die als Frau, Mutter, Geschäftsfrau und Schriftstellerin. Mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebte sie in Jyväskylä. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie Geschäftsfrau und erlang somit finanzielle Unabhängigkeit, die ihre Aktivität sowohl in literarischen als auch sozialen Kreisen prägte.

Minna Canth (1891)

Ihre Karriere als Schriftstellerin begann mit journalistischer Arbeit für lokale Zeitungen, dies weitete sich in den folgenden Jahren auf nationaler Ebene aus. Sie begann mit eigenen Werken, welche die damaligen strukturellen Bedingungen von Frauen und der Arbeiterklasse kritisierten. Ihr rhetorischer Schreibstil, der Fragen und direkte Appelle an die Leser*innen beinhaltete, machte auf soziale Ungleichheit aufmerksam. Canths Werke sind sowohl in finnischer als auch schwedischer Sprache verfasst.

Große Anerkennung erhielt sie für ihre realistische Darstellung von Frauen und der Infragestellung von patriarchalen Normen. Aktivismus, der für die heutige Gesellschaft selbstverständlich erscheint, war zu Lebzeiten von Canth äußerst kontrovers. Sie war ihrer Zeit oftmals voraus, dies sorgte beispielsweise für das Verbot ihres Stückes Unglückskinder (1888).

Laut Minna Rytisalo (Autorin und Lehrerin) sei Canth gewissermaßen die erste Feministin Finnlands gewesen. Für Canth hatten Frauen das Recht auf Ausbildung in allen Bereichen, in ihren Stücken repräsentierte sie emanzipierte Frauen, zum Beispiel in ihrem Stück Sylvi (1893).

Auch heute zeugen Canths Schriften von Relevanz, trotz der Ausweitung der Gleichstellung und der Rechte für Frauen (Finnland führte beispielsweise im Jahre 1906 als erstes europäisches Land das Wahlrecht für Frauen auf nationaler Ebene ein). Ihre Denkweise inspirierte über Generationen hinweg die finnische Frauenliteratur und auch heute können wir von Canth lernen, denn der Aktivismus für die Gleichstellung der Geschlechter zeigt sich beständig.

Quellen:
https://finland.fi/de/kunst-amp-kultur/finnische-autorin-minna-canth-kam-sah-und-trat-aktion/
https://kansallisbiografia.fi/

Bildquellen:
Titelbild: Markus Winkler auf Unsplash
Minna Canth: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Minna_Canth_vuonna_1891.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – eine Kraft der Märzrevolution

Ungarns bedeutender Dichter Sándor Petőfi (1823-1849) prägte nicht nur die ungarische Literatur, sondern spielte auch eine wichtige Rolle beim Ausbruch der ungarischen Revolution im März 1848. Er machte sich somit nicht nur als bekannter Schriftsteller, sondern auch als Freiheitskämpfer einen Namen.

Petőfi stammt aus Ungarn, wächst im Genuss guter Bildung auf, doch er schlägt einen anderen Weg, ohne Schulabschluss, als Dichter ein. Durch seinen Umzug nach Pest im Jahre 1844 verspricht er sich eine steigende Karriere als Dichter, die ihm mit Hilfe eines anderen Journalisten folglich gelang. In den darauffolgenden Jahren baute er seinen Erfolg aus. Seine Werke und seine sowohl thematischen als auch stilistischen Markenzeichen zeugen auch heute noch von großer Bekanntheit. Weitere Informationen zu Sándor Petőfis Wirken erfährt man in unserem letzten Blogbeitrag.

Trotz Petőfis höherem Bekanntheitsgrad als Dichter, nimmt seine Persönlichkeit, in Gedenken der Märzrevolution, bei dessen Anfängen und auch in den darauffolgenden Jahren, einen wichtigen Platz ein.

Historisch betrachtet befand sich Europa durch den Ausruf der zweiten französischen Republik am 24. Februar 1848 in Aufbruchsstimmung. Die bürgerlichdemokratische Revolutionswelle erfasste auch das Königreich Ungarn, Petőfis Heimatland.
Diese Welle traf durch die angespannte Lage im Kaisertum Österreich (Ungarn forderte den Ausbau der nationalen Unabhängigkeit) in Ungarn schnell auf Befürworter. Gewaltlose Massendemonstrationen in Pest und Buda ereigneten sich am 15. März, das sogenannte ZwölfPunkteProgramm der ungarischen Revolutionäre wurde von dem kaiserlichen Gouverneur akzeptiert und landesweite Aufstände brachen aus. Daraus resultierte der Ausruf einer neuen Regierung Ungarns, mit Lajos Batthyány als Ministerpräsidenten. Seine Regierung verabschiedete anschließend die sogenannten März– oder Aprilgesetze, die Ungarns Staatsform reformierten: Ungarn wurde eine konstitutionelle Monarchie.

Die ungarischen Revolutionäre forderten in ihrem Programm, das zur Freiheit der Bevölkerung und der Demokratisierung des Landes beitragen sollten, unter anderem die Pressefreiheit sowie die Aufhebung der geltenden Zensur und der Frondienste.

Unter den Revolutionären befand sich auch Sándor Petőfi. Er war vor allem am Ausbruch der Demonstrationen am 15. März 1848 beteiligt und ist somit einer der wichtigsten Repräsentanten, wenn man die Anfänge der ungarischen Revolution betrachtet.

Zur Zeit diesen Ausbruchs agierte Petőfi als einer der Anführer der radikalrevolutionären intellektuellen Jugend. Diese berief sich ebenfalls auf das ZwölfPunkteProgramm, das er gemeinsam mit anderen Revolutionären bei dem Versuch der Mobilmachung von Studenten proklamierte. Aus dieser Mobilmachung folgte der bekannte Aufstand für die Revolution.

Sándor Petőfis Gedicht Nationallied (Nemzeti dal) wurde durch seine spontane Darbietung anlässlich des Aufstands zu der Hymne der Revolutionäre (Talpra magyar, hí a haza!; zu deutsch: Auf, die Heimat ruft, Magyaren!). Es gelang durch den Zwang des Drucks des Gedichts, den die Revolutionäre auf die Druckerpresse ausübten, unzensiert in den Umlauf. Das Gedicht stößt bei der Bevölkerung auf Begeisterung, daher wurde es am selben Tag als Zeichen des Wandels bei der Volksversammlung erneut vorgetragen.

In den darauffolgenden Jahren wurde Petőfi Mitglied zahlreicher politischer Delegationen und Kommissionen. Er war Kapitän der Nationalgarde von Pest und schloss sich dem sogenannten Gleichheitsklub (Egyenlőségi Társulat), dem radikalsten Flügel der Revolution an. Im Oktober 1848 wurde er Hauptmann in Debrecen und ab 1849 diente er dem polnischen General Józef Bem in Siebenbürgen.

Sándor Petőfi fiel 1849 bei der Schlacht von Schäßburg, sein Grab ist bis heute unbekannt.

Petőfi zeigte zu seinen Lebzeiten politisches Engagement, sein Leben war eng mit dem Kampf um die Freiheit verbunden. Seine revolutionäre Seite erkennt man auch in seinen Werken wieder, politische Aspekte prägten diese in seiner gesamten schriftstellerischen Tätigkeit. Von Beginn an forderte er die Unabhängigkeit des ungarischen Nationalstaates.

Quellen:
Koch, Peter. Revolutionen in Ungarn. Umbruch 1989/90 und frühere Bewegungen. URL: https://osteuropa.lpb-bw.de/revolution-in-ungarn, abgerufen am 15.03.2023.
László Révész. Petőfi, Sándor. In: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 447-449 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1529, abgerufen am 15.03.2023.
Schlosser, Christine. 2009. Zwei Jahrzehnte ungarische Literatur in deutscher Übersetzung. 1988-2008. Eine kommentierte Bibliographie. Budapest.
Wollstein, Günther. 2010. Märzrevolution und Liberalisierung. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/revolution-von-1848-265/9875/maerzrevolution-und-liberalisierung/, abgerufen am 15.03.2023.
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi, abgerufen am 15.03.2023.

Bildquellen:
Titelbild: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_Nemzeti_M%C3%BAzeum.jpg
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_S%C3%A1ndor.jpg
Nationallied: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi#/media/File:Nemzetidal.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – seine Wirkung als Dichter

Sein 200. Geburtstag, welcher sich am 1. Januar 2023 ereignete, bietet eine gute Gelegenheit den Dichter Ungarns zu betrachten, der die Zukunft entscheidend veränderte und die Vergangenheit nach seinem Bild umformte.

Sándor Petőfi (1823-1849) weist eine dokumentierbare Erfolgsgeschichte vor, die einzigartig für die ungarische Literatur ist. Diese zeugt allerdings auch von zahlreichen Verstößen gegen damalige literarische, gesellschaftliche und politische Normen.

Petőfi stammt aus einer Ungarisch sprechenden Familie slowakischen Ursprungs, die an einem lutherischen Glauben festhielt. Da seine Eltern seine schulische Ausbildung förderten, hatte er gute Chancen auf eine Karriere und damit auch auf soziale Mobilität, obwohl er aus keiner Adelsfamilie stammte. Doch als er 1842 bewusst das Gymnasium ohne schulischen Abschluss verließ, verzichtete er auf diese von seinen Eltern gebotene Möglichkeit.

Seine eigene Identitätsbildung wurde allerdings durch kollektive Adelsrechte, welche er durch seinen Vater erlangte (dieser erwarb einen Landsitz), geprägt. Petőfi war zwar nicht adelig gewesen, sondern gehörte lediglich einem gewissen Stand an, bis sein Vater seine Ländereien verlor, doch diese Zugehörigkeit hatte ihre Grenzen, die beispielsweise auch ein alter Mitschüler schilderte, Petőfi sei ein aufdringlicher, slowakischer und lutherischer Schüler.

Seine politische Karriere scheiterte bereits 1848 bei den Wahlen zum Parlamentsabgeordneten. Dort versuchte er, seine Wähler mit einem Wir-Bewusstsein zu überzeugen, doch dies blieb erfolgslos.

Sein Erfolg als Dichter war im Einklang mit dem damaligen politischen und gesellschaftlichen Wandel des Landes, es bildeten sich Tendenzen zur Demokratisierung. Die Kriterien zu der Zugehörigkeit einer Gesellschaft wandelten sich, ein neues Kulturverständnis und der Begriff der Volkskultur entstand. Somit bekam auch die literarische Kunst eine neue Bedeutung und eine Art Presselandschaft wurde in Ungarn gebildet.

Dank diesem Wandel erlangten auch Dichter*innen und Schriftsteller*innen einen neuen Status. Dies half auch Petőfi, als er in den 1840ern seinen Auftritt als Dichter begann. Um diese Karriere zu fördern und auszubauen, verließ er 1844 seinen damaligen Wohnort Debrecen und zog nach Pest, dort erhoffte er sich einen Aufschwung als Dichter.

Durch diese weitere bewusste Entscheidung schaffte der Dichter es noch zu Lebzeiten, sich eine eigene Marke zu erstellen. Er brachte eine Art volkstümliche Kultur mit, diese spielte auch in seinen späteren Gedichten eine wichtige Rolle.

Mit Hilfe von Imre Vahot (dieser war ein ungarischer Schriftsteller und in Besitz einer eigenen Zeitschrift) gelang Petőfi die Erstellung eines öffentlichen Bildes. Imre Vahot kaufte die Rechte seiner Gedichte, stellte ihn in der Öffentlichkeit als Naturgenie dar, und prägte somit seine öffentliche Präsenz und Wirkung. Durch die Entwicklung einer Art Markenstrategie und die publike Anpassung Petőfis gelang es tatsächlich seinen Erfolg auf landesweiter Ebene auszubauen.

Auch zu seiner Persönlichkeit gab es geteilte Meinungen. Konservative Kritiker*innen sahen in ihm Entwürdigung der Dichtung, doch aus Sicht seiner Freunde brachte er frischen Wind und belebte die damalige Literatur.

Ein interessanter Fakt zu seinen Anfängen als Dichter betrifft seine erste Leserschaft. Denn obwohl Petőfi eine volkstümliche Stimme war, bestand diese nicht aus dem einfachen, ungebildeten Volk, sondern aus der adelig- bürgerlichen Schicht, vermehrt Frauen.

Sándor Petőfi besaß sowohl als eigene Persönlichkeit als auch als Stimme hinter seinen Dichtungen viele Markenzeichen. Immer wieder zeugte seine Poesie von Verständlichkeit, seine Texte benötigten keine Interpretationen, was er sagte, wurde verstanden. Für ihn war es wichtig, dass das Publikum seine Werke verstehen und aufnehmen kann, die Einhaltung der Regeln der damaligen Poesie standen für ihn nur an zweiter Stelle. Er wirkte durch diesen Aspekt und durch seine demokratisierende Sprache vielmehr als romantisches Genie. Sein Mythos beinhaltete auch das Grundprinzip des Nationalismus.

Die bereits genannte Volkstümlichkeit war eines seiner wichtigsten Markenzeichen, die damalig vorhandenen Mittel der ungarischen Literatur überführte er ebenfalls in diese. Auch die dazugehörige Volkssprache spielte in seinen späteren Werken eine Rolle. Für ihn war sie die Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung. Ein Beispiel für diese Akzente findet man in seinem Werk Held János.

Die Freiheit und seine dazugehörigen Ideologien prägten seine Werke ebenfalls, er zeigte diese ganz offen, der Begriff der Freiheit war für ihn die Grundlage des Lebens und der Politik. Aber auch der Individualismus war hiermit verbunden, sein Gebot der Freiheitsideologie besagt, dass das Individuum über allem stehe.

Den Aspekt der Politik baute er auf eine natürliche Art und Weise in seine Lebensweise, Weltanschauung und Dichtung ein. Sein offen erkennbares politisches Denken wurde in den letzten Jahrzehnten oftmals debattiert, allerdings ohne ein aussagekräftiges Ergebnis.

Petőfis Bekanntheit erlang ein individuelles Ausmaß, er wurde in gewissermaßen zur Symbolfigur des Demokratisierungsprozesses Ungarns, die selber aus dem Volk stammte.

Die lebendige Sprachweise, die Leidenschaft und seine persönliche Haltung verliehen seinen Dichtungen einen individuellen Touch, dadurch hoben diese sich, trotz ähnlichen Thematiken, von den Werken seiner Zeitgenossen ab.

Quellen:
E. Csorba, Csilla (2015): A Petőfi-dagerrotípia. Miért azt látjuk, amit látunk? Rubicon 2015/7. 58-63.
Fekete, Sándor (1977): Így élt a szabadságharc költője
Margócsy, István (1998): A szabad elvű Petőfi. Holmi, 1998/3. 309-322.
Margócsy, István (2003): “…ikercsillagok, egymás kiegészítői…” Petőfi és Arany kettős kultusza és kettős kanonizációja. ItK, 2003/4-5. 442-469.
Milbacher, Róbert (2023): Petőfi, a normaszegő. Élet és Irodalom, 2023/7, 13.
Pesti, Brigitta: Einführung in die ungarische Literaturgeschichte I. Ungarische Literatur von ihren Anfängen bis zur beginnenden Moderne
Szilágyi, Márton (2015): Petőfi Sándor és a polgári létezés lehetőségei. Rubicon 2015/7. 14-19.
Szolláth, Dávid (2004): A kultuszkutatás két tendenciája. In: Buksz, 2004/3. 232-240.

Präsentationsskript des Vortrags “Sándor Petőfi – Entstehung einer Kultmarke” von PhD Judit Molnár, Finnisch-Ugrisches Seminar der Georg-August-Universität Göttingen (2023)

Bildquellen:
Titelbild: Digital Content Writers India auf Unsplash
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Orlai-petofi1.jpg
Kokarde: Hungarian cockade von Khalai via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magyar_kok%C3%A1rda.png (CC BY-SA 3.0)

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Alvar Aalto und die finnische Architektur

Alvar Aalto ist nicht nur in Finnland bekannt, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus. Der 1898 in Kuortane, Finnland geborene Architekt und Designer entwarf im Laufe seines Lebens eine Vielzahl an Gebäuden in der ganzen Welt: Von Finnland über Deutschland, Russland und bis in die USA – seine Architektur ist für ihre besondere Form und seinen Modernismus berühmt. Doch auch mit dem Design von Glas und Möbeln machte er sich einen Namen: Die Savoy-Vase (1936) und der Stuhl 611 (1929) sind ebenso weltberühmt.

Savoy-Vasen (Foto von Hayffield L auf Unsplash)

Aalto war der älteste Sohn eines Landvermessers und einer Postangestellten und die junge Familie zog bald von seinem Geburtsort nach Jyväskylä, das später eine wichtige Wirkungsstätte für ihn werden sollte. Nach dem Schulabschluss schrieb er sich für ein Architekturstudium am Polytechnikum Helsinki (später Technische Hochschule) ein und schloss es 1921 ab.

Danach begann Aalto, in Helsinki zu arbeiten, wo er jedoch nicht zufrieden war. Seine ersten Auftragsarbeiten fertigte er 1921 und 1923 anderenorts. 1923 war auch das Jahr, in dem er in seiner Schulstadt Jyväskylä ein Architekturbüro eröffnete. Dort stellte er Aino Marsio, die ebenfalls Architektur studiert hatte, 1924 ein und heiratete sie noch im selben Jahr. Die beiden bekamen zwei Kinder und arbeiteten im Laufe ihres restlichen gemeinsamen Lebens eng zusammen.

1927 folgte ein Umzug nach Turku, nachdem Aalto eine Wettbewerbsausschreibung gewann. Dort verwirklichten sie neue Ideen und Trends: Auf ihren vielen Reisen nahmen die Aaltos neue Impulse aus ganz Europa auf und wandten sich dabei Schritt für Schritt vom neoklassizistischen Stil ab und dem funktionalen Design zu. Dies zeigt sich beispielsweise im Design neuer Wohnkomplexe und der Gestaltung von Wohnungen als funktionale Einheit.

1929 war für Aalto ein wichtiges Jahr. Nicht nur designte er zusammen mit dem Architekten Erik Bryggman die Turkuer Messe, er schloss auch Bekanntschaft mit weiteren wichtigen Persönlichkeiten seiner Zeit, so z. B. László Moholy-Nagy, der am Bauhaus in Weimar unterrichtete. Die neuen Impulse verarbeitete er insbesondere in dem Bau des Sanatoriums von Paimio, das ihn auch im Ausland berühmt machte. Es folgten weitere Aufträge in Helsinki und Viipuri (Wyborg) und auch die Möbel aus dem eigenen Design hatten mehr und mehr Erfolg. 1935 gründeten die Aaltos zusammen mit Maire Gullichsen und Nils-Gustav Hahl die Firma Artek, mit der sie ihre Möbel vertrieben und eine neue Form der modernen Wohnkultur verbreiten wollten.

Jyväskylä, Finnland (Foto von K8 auf Unsplash)

Ende der 1930er reiste Aalto in die USA und begann, sich mehr und mehr für Standardisierung zu interessieren. Eines seiner Markenzeichen wurde dabei die Verwendung von lokalen Materialien als Bestandteil seiner Designs.

Nach Ende des zweiten Weltkriegs designte Aalto das MIT Baker House (USA), bei dem er zum ersten Mal extensiver Backsteine als Baumaterialien einsetzte. Die Faszination von Backstein als Material war so groß, dass Aalto Ende der 1950er sogar eine eigene Form davon entwickelte und in seinen Gebäuden einsetzte, um ihnen die für seinen Stil charakteristischen Wellenformen zu geben.

Seine Frau Aino starb 1949 und riss damit ein Loch nicht nur in Aaltos Leben, sondern auch in sein Wirken, denn sie war es, die mit ihrem besonderen Auge für Ästhetik für das Design der Innenräume zuständig war. Von ihr stammen auch die Glas-Designs wie Riihimäen Kukka (Blume von Riihimäki).

1952 heiratete Alvar Aalto erneut. Seine Frau Elissa (Elsa-Kaisa) hatte ebenso Architektur studiert und arbeitete seit 1949 in Aaltos Architekturbüro. Nach seinem Tod 1976 war sie es, die seine nicht abgeschlossenen Arbeiten vollendete, so z. B. das Aalto-Theater in Essen.

Aaltos Geburtstag, der 03. Februar, ist auch der Tag der finnischen Architektur und des Designs.

Titelbild: Shahabudin auf Unsplash

Quellen:
https://fi.wikipedia.org/wiki/Alvar_Aalto
https://fi.wikipedia.org/wiki/Luettelo_Alvar_Aallon_suunnittelemista_rakennuksista
https://kansallisbiografia.fi/kansallisbiografia/henkilo/1408
http://www.laszlo-moholy-nagy.de/
https://www.theater-essen.de/tup/spielstaetten/aalto/
https://www.alvaraalto.fi/tyo/aalto-maljakko/#
https://www.alvaraalto.fi/tyo/tuoli-611/#
https://www.artek.fi/fi/yritys/tarinamme
https://www.alvaraalto.fi/tietoa/alvar-aallon-elama/
https://www.alvaraalto.fi/tietoa/aino-aalto/
https://www.alvaraalto.fi/en/information/elissa-aalto/
Leskinen, Taru-Orvokki. 2021. Aaltojen Kuviot. Alvar, Aino ja Elissa Aallon suunnittelemat tekstiilit. Jyväskylä.
Lohtaja, Aleksi. 2021. Alvar Aalto, avantgarde ja politiikka. In: Tietolipas 267. 192-213.

Happy Birthday, Himnusz!

Eine Hymne, gerade eine Nationalhymne, das ist eigentlich mehr als Musik. Sie ist zugleich auch immer ein Teil von Identität, ein Bekenntnis und eine Zugehörigkeit. Es gibt schmetternde, kämpferische, eher sanfte, nachdenkliche, mal schnell, mal langsam, aber immer wollen Hymen Bekenntnis ablegen, Bekenntnis zum König („God save the King“ oder „Gott erhalte Franz den Kaiser“) oder zur Heimatliebe, wie die Norwegische schon im Titel mit „Ja, vi elsker dette landet“ („Ja wir lieben dieses Land“) verkündet. Manche Hymnen künden vom eigenem Land als einem gesegneten. Die Ungarische erbittet erst den Segen Gottes: „Isten, áldd meg a magyart.“ („Herr, Segne reich den Ungarn“) Zwar wurde der Text des Liedes bereits am 23. Januar 1823 im Dorf Szatmárcseke von Ferenc Kölcsey vollendet, aber erstmals veröffentlicht wurde er in der Literaturzeitschrift Aurora des Dichters Károly Kisfaludy 1828, damals noch ohne den Untertitel „A magyar nép zivataros századaiból“ („Aus den stürmischen Jahrhunderten des Ungarischen Volkes“), der erst in einer Textsammlung des Autors aus dem Jahr 1832 auftaucht. Die Tatsache, dass der Untertitel zunächst fehlte, wurde auf die in der österreichischen Monarchie allgemein vorherrschenden Zensur zurückgeführt und der Verweis auf die Vergangenheit sollte den Zensoren als Ablenkung und Beschwichtigung dienen. Diese These kann jedoch dadurch widerlegt werden, dass der Text zunächst weder 1828, noch 1832 große allgemeine Beachtung fand.
Durchgängig anzuhören ist dem Text die Anrufung an den lieben Gott, der den Ungarn verzeihen möge, für die Sünden der Vergangenheit.

[…]
Őseinket felhozád
Kárpát szent bércére
Hajh, de bűneink miatt
Gyúlt harag kebledben,
S elsújtád villamidat
Dörgő fellegedben,

[…]
Szánd meg Isten a magyart
Kit vészek hányának,
Nyújts feléje védő kart
Tengerén kínjának.
Bal sors akit régen tép,
Hozz rá víg esztendőt,
Megbűnhődte már e nép
A múltat s jövendőt!

[…]
Du hast unsere Vorfahren
Zu dem heiligen Karpatengipfel gebracht
Doch wegen unserer Sünden
Sammelte sich Zorn in deiner Brust
Und deine Blitze trafen uns
Aus deinen donnernden Wolken,

[…]
Hab’ Mitleid, Herr, mit dem Ungarn,
Den die Gefahren schütteln,
Beschütze ihn mit deiner Hand,
Im Meer der Qualen.
Denen die schon lange vom Schicksal nicht
verschont,
Bring ihnen eine bessere Zeit.
Denn dies Volk hat schon gebüßt
Für Vergangenes und Kommendes.

Doch auch ein „Klassiker“ der Nationalhymnen taucht im Himnusz auf: Nämlich das Anpreisen der schönen Landschaft und die Markierung wichtiger geographischer Punkte, die als national bedeutend angesehen werden. In obiger zweiter Strophe war bereits von den Kapartengipfeln die Rede. Auch Getränke tauchen schließlich gelegentlich in Hymnen auf, wie z. B. der „deutsche Wein“ im „Lied der Deutschen“ Die Tokaj und ihr Wein dürfen da auf keinen Fall fehlen! Ihm wird in der dritten Strophe Ehre erwiesen:

Értünk Kunság mezein
Ért kalászt lengettél,
Tokaj szőlővesszein
Nektárt csepegtettél.

[…]

Für uns auf den Kunság-Feldern
Wiegt sich das reife Getreide,
Von den Tokajer Hängen
Lässt du Nektar tropfen.

[…]

Die bildliche Geschichte und der überzeitliche religiöse Bezug tragen mit dazu bei, die Hymne zu vielfältigen Gelegenheiten, egal ob Gottesdienst oder Silvester, singbar zu machen. Die Musik zum Text wurde von Ferenc Erkel 1844 komponiert. Dieser gilt als Schöpfer der ungarischen Nationaloper und dies obwohl er nicht ungarischer Muttersprachler war. Den Einfluss französischer Opernkomponisten und Wagners auf seinen Stil ist auch dem „Himnusz“ anzuhören. Die Hymne beansprucht immerhin einen Stimmumfang von anderthalb Oktaven und ist daher nicht
leicht zu singen. Genauso an eine Oper erinnert der Aufbau. In einfacher Dur-Melodie gehalten, steigert sie sich zum Mittelteil hin und verklingt in sanftem Pianissimo. Aufgeführt als Sieger eines Preisausschreibens zur Vertonung des Gedichts von Körcsely wurde das Stück erstmals am 2. Juli 1844. Erstmals angestimmt wurde der Gesang der Hymne zu dem ihm zugedachten Stück in den Zeiten der Revolution 1848. Dieses Lied hatte sich durchzusetzen gegen den Widerstand, sogar von höchster Stelle. Kaiser Franz Joseph I. verweigerte einem Gesetz, welches sie offiziell als Hymne Ungarns anerkennen sollte, im Jahre 1903 die Unterschrift.

Während in anderen Ländern mit wechselhafter Geschichte und wechselnden politischen Systemen die Nationalhymnen und die Texte munter getauscht wurden, widersetzte sich der Himnusz auch den Ersetzungsversuchen der kommunistischen Zeit. Damals beauftragte man in den 1950er-Jahren den Musikwissenschaftler und Komponisten Zoltán Kodály mit der Komposition einer neuen Hymne, da insbesondere der religiöse Kontext, der bereits in der ersten Zeile zum Ausdruck kommt, den damaligen kommunistischen Machthabern missfiel. Kodály soll den Auftrag aber mit den Worten „Wieso die alte ist doch gut?“ brüsk abgelehnt haben. So behielt Ungarn seine Hymne durchgehend bis heute. Anlässlich des 200. Geburtstages der Hymne wurde zahlreiches Originalmaterial und Wissenswertes rund um die Hymne neu zusammengetragen unter https://www.magyarhimnusz.hu/

Aus Anlass dieses Geburtstages wird seit 1989 alljährlich in Ungarn der Tag der Ungarischen Kultur begangen. „Dieser Tag soll uns daran erinnern, dass wir auf ein tausendjähriges Erbe zurückblicken können und dass wir auf vieles stolz sein können, da diese Nation der Kultur Europas und der Welt viel gegeben hat. Es handelt sich um ein Erbe, das erhalten und verwaltet werden kann und das auch zur Lösung der heutigen Probleme beitragen kann.“ schrieb Pianist Árpád Fasang im Jahr 1985, nachdem er den Gedenktag „Tag der Ungarischen Kultur“ initiiert hatte.

Auch die Finnougristik in Göttingen gratuliert herzlich! Happy Birthday Himnusz!

Text: Alexander Paul Freyer

Titelbild: https://de.wikipedia.org/wiki/Himnusz#/media/Datei:Himnusz.jpg, gemeinfrei

Quellen:
Ulrich Ragozat: Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon., Herder-Verlag, Freiburg, 1982 (S.251-254)
János, Kenyeres: “Manifestations of Hungarian Identity in Literature.”, in: Hungarian Cultural Studies. e-Journal of the American Hungarian Educators Association, Volume 12, 2019
Daniel Vargha: Tag der Ungarischen Kultur: „Die fast 200 Jahre alte Hymne, die erst vor 33 Jahren offiziell wurde“, abgerufen unter: https://ungarnheute.hu/news/tag-der-ungarischen-kultur-die-fast-200-jahre-alte-hymne-die-erst-vor-33-jahren-offiziell-wurde-76435/
https://www.magyarhimnusz.hu/

Geister in Helsinki

Finnlands Hauptstadt Helsinki hat eine lange und vielseitige Geschichte, die Einige in den Bootstouren und Stadtführungen, die besonders in der sommerlichen Touristensaison zahlreich angeboten werden, vielleicht schon kennengelernt haben. In der dunklen Hälfte des Jahres zeigt sich die Stadt aber von einer anderen Seite: bei dem „Kummituskävely“ erfährt man von den Gespenstern, die in den historischen Gebäuden und Plätzen Helsinkis ihr Unwesen treiben. Diese Führungen sind trotz der kalten Herbstnächte sehr beliebt, weshalb es nicht einfach ist, einen Platz zu bekommen. Wer aber mutig genug ist, kann sich mit dem Stadtführer Helsingin henget. Opas aaveiden pääkaupunkiin selbstständig auf Geisterjagd begeben. Darin finden sich Ortsbeschreibungen und historisches Hintergrundwissen, aber auch die Geistergeschichten selbst.

Im Piperin puisto auf der Festungsinsel Suomenlinna zum Beispiel gibt es einen Teich, der auch „Lemmenlampi“ genannt wird, also „Teich der Liebe“. Der romantische Klang trügt: Ende der 1700er versuchte ein Pärchen, das aufgrund von Standesunterschieden nicht zusammenbleiben durfte, sich darin zu ertränken. Der weite Rock der Frau allerdings schwamm auf der Teichoberfläche und alarmierte einen Spaziergänger, der die Frau daran aus dem Teich zog – sie überlebte allein. Aus Schuldgefühlen soll sie noch immer um den Teich wandern, und in der Dämmerung schimmert ihr Fußknöchel über der Wasseroberfläche.

Mysteriöser ist die Gestalt der weißen Dame, die hin und wieder beim Verlassen des 1952 gegründeten Restaurants Walhalla – ebenfalls auf Suomenlinna – gesichtet wird. Sie schwebt zur Vorderseite hinaus und löst sich in Luft auf. Man vermutet, dass sie etwas sucht, doch ihre Identität und Geschichte kennt niemand.

Auch im beliebten Café Kappeli in den Esplanaden nahe dem Markt soll es spuken, allerdings mit weniger Mysterium: der Besitzer und Gastwirt Josef Wolontis hat sich nach seinem Tod nicht von seinem ehemaligen Betrieb trennen können, und sorgt seit 1980 regelmäßig für seltsame Begebenheiten. Mal verschwindet nach Schließzeiten ein Stuhl und taucht am nächsten Tag aus dem Nichts wieder auf, mal fallen im Keller Gegenstände aus den Regalen. Wer, um ihn zu treffen, als Gast dort regelmäßig einkehren möchte, sollte allerdings im Vorhinein etwas Geld sparen: es ist dort sehr teuer.

Interessanter sind die Geschichten, die sich um die „Grauen Frauen“ ranken, weibliche Geisterscheinungen, die meist aus dem viktorianischen Zeitalter stammen. Oft handelt es sich dabei um Frauen, die mit den gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Zeit in Konflikt gerieten und auch nach ihrem Tod noch nach ihrem eigentlichen Platz suchen. Eine von ihnen, kopflos, soll im Rathaus gesichtet worden sein – dort bewegen sich seitdem die Fahrstühle immer mal von selbst, ohne dass jemand ein- oder ausgestiegen wäre.

Text: Eva Kraushaar

Quellen:
Kairulahti, Vanessa und Karolina Kouvola. Helsingin Henget. Opas aaveiden pääkaupunkiin. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura 2018
Kruununhaan kummitustarinat -kummituskävely | Event | City of Helsinki
Titelbild: Joakim Honkasalo auf Unsplash

Die Sámi-Frage in Finnland. Hintergründe.

In Finnland wird die Zugehörigkeit zu den Sámi im §3 des Gesetzes zum Sámi-Parlament bestimmt. Dies besagt, dass mit Sámi eine Person gemeint ist, die sich als Sámi identifiziert, und eins der Kriterien erfüllt: 1) sie muss entweder selbst Samisch sein oder als erste Sprache sprechen oder ihr Elternteil oder Großelternteil muss Samisch als Muttersprache gehabt haben, 2) sie muss von einer Person abstammen, die im Melde- oder Steuerregister als Lappe eingetragen war, oder 3) wenigstens ein Elternteil muss bei der Sámi-Parlamentswahl im Wählerverzeichnis eingetragen sein oder hätte eingetragen sein können.

Problematisch ist das zweite Kriterium, denn es wird nicht bestimmt, wie weit weg in der Vergangenheit die Eintragung als Lappe liegen kann. Fast jeder Einwohner des finnischen Lapplands hat einen Vorfahren, der im Register als Lappe eingetragen ist, denn ab dem 17. Jahrhundert wurden Personen, die nomadenhaft und aus der Natur lebten, als Lappen bezeichnet. Es handelt sich also nicht nur um Sámi.

Das Sámi-Parlament und das oberste Verwaltungsgericht Finnlands sind sich in den letzten Jahren nicht immer einig darüber gewesen, wer zu den Sámi zählt und wer nicht. Deshalb müsste das Gesetz dringend erneuert und die ILO-Konvention 169 ratifiziert werden. Die Ratifizierung wird allerdings auch Gegner im finnischen Parlament haben, denn sie setzt voraus, dass Finnland aktiv die kulturelle, sprachliche, soziale und finanzielle Lage der Sámi sicherstellt und das Recht der Sámi auf das Land und die Gewässer in ihrem Heimatgebiet anerkennt.

Die Gründe und Hintergründe sowohl für die Anträge als auch für die Ablehnungen sind kompliziert und hängen zusammen mit eingebildeten Sonderrechten der Sámi, Machtfragen und vor allem der traumatisierenden Assimilationspolitik des letzten Jahrhunderts.

Quellen:

Das Gebet Ras’ken’ ozks 2022 – ein Nationalfest ohne Nationalflagge

Rasken ozks (Раськень озкс; ersjanisch raske ‘Volk, Sippe’ und ozks ‘Gebet’) ist ein altes ersjanisches Gemeinschaftsgebet, das im 17. Jh. verboten und 1999 wiederbelebt wurde. Seit 2004 ist das Gebet offizielles Nationalfest der Republik Mordwinien (Russiche Föderation).

Am 9. Juli 2022 wurde das Gebet zum ersten Mal ohne die ersjanische Flagge abgehalten: die Behörden untersagten nicht nur das Hissen einer ersjanischen Flagge, selbst die bereits aufgehängten Fahnen wurden von den Ordnungskräften entfernt. Nur die Flaggen der Republik Mordwinien und der Russischen Föderation durften gehisst werden.

Warum ist das ein Problem?

Die Ersja sind ein finnisch-ugrisches Volk. Traditionell werden sie mit zwei weiteren Völkern, den Mokscha und den Schokscha, einer größeren Volksgruppe zugeordnet und Mordwinen genannt. Sich selbst bezeichnen sie aber jeweils ausschließlich als Ersja, Mokscha und Schokscha, in ihren Sprachen existiert keine Entsprechung für das Wort Mordwinen. Sie betrachten sich nicht als ein einheitliches Volk und ihre Sprachen nicht als Dialekte einer gemeinsamen Sprache, sondern betonen ihre Selbstständigkeit.

Die Ersja, Mokscha und Schokscha leben vor allem in der Republik Mordwinien in der Russischen Föderation. Ihre Republik hat drei Amtssprachen: Russisch, Ersjanisch und Mokschanisch. Innerhalb der Republik Mordwinien leben aber nur etwa ein Drittel der „Mordwinen“ und stellen ca. 39 % der Bevölkerung. Der Rest lebt in anderen Gebieten und Republiken  Russlands.

Die Ersja leben seit dem 13. Jahrhundert unter starkem russischem Einfluss. Sie wurden christianisiert und größtenteils russifiziert. Politische und Kulturorganisationen setzten sich im 20. und 21. Jh. als Ziel, die Tradition und die Sprache zu erhalten sowie die alte Religion wieder zum Leben zu erwecken.

Das Gebet Rasken ozks

Rasken ozks findet alle drei Jahre im Dorf Čukalо (russ. Tschukali) in einer Senke an einem Bach statt. Der Ort wurde nicht zufällig gewählt: im Jahr 1612 besiegten hier ersjanische Krieger und Vertreter anderer Völker die Nogaier, eine tatarische Horde. An dieser Stelle sollen etwa 11 000 Soldaten begraben liegen: Ersja, Mari, Tschuwaschen und Udmurten. Im Jahr 1629 kamen Ersja aus den Gebieten Nischni Nowgorod und Alatirsk zum ersten Mal hierher, um zu beten.

Bei Sonnenaufgang wird ein mit Blumen geschmückter Opfer-stier geschlachtet, das Fleisch wird in Kesseln gekocht. In der Mitte der großen Lichtung steht der Maar-Hügel, der von den Ersja viele Jahrhunderte lang mit Erde, die sie von ihren Wohnorten mitbrachten, aufgeschüttet wurde. Hier steht die große Kerze des Volkes, erzan štatol, für deren Herstellung ausschließlich Bienenwachs verwendet wird, das von allen Ersja zwischen den Gebeten gesammelt wurde.

Erzianj jurnalist. Собственная работа, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59382431

Rasken ozks ist mehr als ein großes Gebet. Hier diskutieren die Ersja wichtige gesellschaftliche, politische, kulturelle Themen und planen ihre Zukunft. Am Tag des Gebets kommt das höchste ständige repräsentative Organ des ersjanischen Volkes, atan ezem ‘Bank der Ältesten’, zusammen. Die demokratisch gewählten Mitglieder vertreten die ersjanischen Gemeinden und Organisationen. Vor dem Gebet beruft der amtierende erzan inazoro ‘Oberhaupt der Ersja’ den Ältestenrat ein: auf dem Hügel sind im Halbkreis Holzbänke aufgestellt, auf denen die Mitglieder sitzen. Vor dem Gebet werden das neue Oberhaupt und seine beiden Stellvertreter:innen per Abstimmung gewählt. Danach lädt das frisch gewählte Oberhaupt alle Anwesenden ein, sich am Gebet zu beteiligen.

Im Jahr 2022 konnten keine Wahlen stattfinden, da es vielen unmöglich war, zum Gebet anzureisen. Der 2019 gewählt Ältestenrat führt seine Arbeit weiter. Der amtierende inazoro, Bolajen Sires (Oleksandr Bolkin) lebt in der Ukraine.

Heutzutage treten auch Regierungsvertreter:innen Mordwiniens auf die Bühne und halten eine Rede – auf Russisch. 2022 wurde sogar ein „Pseudokönig“ präsentiert, ein Schauspieler, um das Fest wie gewohnt feiern zu können.

Nach den Reden versammeln sich die Menschen um den Maar-Hügel und von der kleinen Lichtung, auf der der Stier geopfert wurde, kommt Ozava, die Gebetsleiterin, mit einer kleinen Kerze. Begleitet wird sie vom weltweit bekannten Folkloreensemble Torama und einer Menschengruppe, die die Volkshelden der Ersja darstellt.

Einer der Ältesten zündet die Stammeskerze an und drückt damit die Einigkeit des Volkes und die Hoffnung auf Wohlstand und auf ein glückliches Leben aus. Ozava hebt ihre Hände zum Himmel und betet laut vor, die Menschen sprechen das Gebet nach. Zuerst werden die Götter und Göttinnen angesprochen, dann die Ahnen, denn die Ersja glauben, dass die Seelen der Vorfahren hier erscheinen werden, um mit ihnen das Gebet zu feiern. Ozava ruft die alten Könige und große Persönlichkeiten der Ersja an, die dem Volk erzählen, wofür sie kämpften und wofür sie gestorben sind.

Anschließend wird ein Pferd mit einem Pflug um den Maar-Hügel geführt, hinter ihm gehen die Ersja, die die mitgebrachte Erde auf den Boden des Maar-Hügels schütten. Das Pferd ist für die Ersja heilig, dem Mythos zufolge wurde es vom Gott Ineškipaz an sie übergeben.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3180049

Heute ist das Gebet ein Volksfest: Überall stehen Stände, an denen authentische und weniger authentische Souvenirs verkauft werden, Sport- und Unterhaltungswettbewerbe, Konzerte finden statt, es wird viel Russisch gesungen und gesprochen. Beim diesjährigen Gebet betonte das Oberhaupt der Republik Mordwinien Artjom Sdunow, dass das Fest in Zukunft noch größer ausgerichtet werden muss. Sdunow sprach auch über die Wichtigkeit des Erhalts der ersjanischen Sprache und Kultur. Umso mehr irritiert es, dass die weiß-rot-schwarze Flagge der Ersja, deren Farben die Heiligkeit des Jenseits tonači, das Leben auf der Erde mit Feuer und Blut und die Erdengöttin Mastorava symbolisieren, nicht gehisst werden durfte. Aktivisten und Aktivistinnen stellen die Frage, ob bald auch der Gebrauch der ersjanischen Sprache verboten wird.

Hier kann man sich das Gebet anschauen:

Quellen:

https://www.idelreal.org/a/31939872.html

https://erzianj-jurnal.livejournal.coм/61529.html

Mészáros, Edit – Molnár, Judit (2005): A mordvinok. In: Pusztay, János (ed.). A Volga- Káma-vidék finnugor népei. Szombathely: Az Uralisztika Tanszék kiadványai 11. 9-37.

Titelbild: Петрянь Андю. Собственная работа, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2963195