Die Sámi in Russland

Die indigene Bevölkerung Nordeuropas, die Sámi waren bereits im 7. Jahrhundert n. Chr. über die ganze Kola-Halbinsel verstreut und lebten als Rentiernomaden und Fischer im Rhythmus der arktischen Natur. Sie mussten erst den Kareliern, dann dem Nowgorod, den Norwegern und Moskowitern Tribut leisten. Die erste russische Kolonisierung erfolgte durch christlich orthodoxe Missionare. Die Bevölkerung wurde getauft und Kloster wurden gegründet mit dem Ziel, neues Territorium zu erobern. Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Sámi zusätzlich zu der Kirche noch vom Staat ausgebeutet, der sich u.a. für Pelze, Fisch, Robben, Walrosse, Lebertran und Stoßzähne interessierte. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts brauchten die Sámi, die bisher nur Tauschhandel kannten, Geld für die Steuern. Sie wurden häufig von Händlern betrogen und vor allem mit Hilfe von Alkohol zu schlechten Geschäften überredet. Zur selben Zeit wollte die russische Regierung die Halbinsel mit anderen Bevölkerungsgruppen besiedeln, mit Finnen, die damals zu Russland gehörten, und Russen aber auch mit Komi. Die Weideländer der Rentiere wurden als Ackerland benutzt und die traditionelle halbnomadische Lebensweise begann zu verschwinden. 

In der Sowjetzeit wurden viele Sámi in Kolchosen gezwungen und das Land wurde zu großen Teilen für Industrie, Bergbau und Militär genutzt. Um die Sámi im Sinne der neuen Ideologie zu erziehen, wurden Schulen und Internate gegründet, in denen der Kontakt zu den Eltern und somit zu der Lebensart und den Traditionen unterbunden wurde. Als Folge dieser Politik bildeten die Sámi am Ende der Sowjetzeit die unterste Schicht der Bevölkerung, über ihnen waren die Komi und ganz oben die Russen. Die absolute Anzahl der Sámi war seit dem 19. Jahrhundert ungefähr gleichgeblieben und betrug 1890 Personen, prozentuell bildeten sie jetzt aber nur 0,2% der Bevölkerung. Sie waren zwangsurbanisiert, ohne Verbindung zur Natur und Rentierzucht, häufig arbeitslos und alkoholsüchtig, weitgehend vom Staat abhängig. Die samische Sprache wurde von ihnen selbst als lästig und schädlich betrachtet, ein Drittel der Sámi war ausschließlich russischsprachig.

Schadstoffe aus der Industrie gefährdeten das Leben auf der Halbinsel, sie verursachten sauren Regen und verschmutzten die Tundra mit Schwermetallen. In den 1980ern wurde ein provisorisches Atommülllager eingerichtet, in dem bis heute ausgebrannte Brennstäbe von Reaktoren sowjetischer U-Boote in baufälligen Hallen lagern. Mehr als 30 Reaktoren stehen in einem weiteren Lager.

1989 wurde die Organisation der Kola-Sámi in Murmansk gegründet, zehn Jahre später eine zweite in Lowosero, wo heute die meisten Sámi wohnen. Beide Organisationen haben einige hundert Mitglieder und die Aufgabe, die Interessen der Sámi zu vertreten. Aus dem Westen erhalten sie humanitäre Hilfe, mit der sie die hilfsbedürftigsten samischen Familien unterstützen. Im Jahr 2001 wurde in Murmansk ein lokales Gesetz erlassen, das die Sámi als indigene Bevölkerung nennt und ihre traditionelle Lebensweise wenigstens theoretisch schützt. Von der Gründung eines Sámi-Parlaments war schon die Rede, es ist aber noch lange nicht in Sicht, denn es fehlt sowohl das Geld auch als die Zustimmung der russischen Autoritäten. Einige Sámi glauben aber noch an eine bessere Zukunft, andere haben die Hoffnung wegen Korruption und Willkür der Behörden längst aufgegeben.

Quellen:

Das Gebet Ras’ken’ ozks 2022 – ein Nationalfest ohne Nationalflagge

Rasken ozks (Раськень озкс; ersjanisch raske ‘Volk, Sippe’ und ozks ‘Gebet’) ist ein altes ersjanisches Gemeinschaftsgebet, das im 17. Jh. verboten und 1999 wiederbelebt wurde. Seit 2004 ist das Gebet offizielles Nationalfest der Republik Mordwinien (Russiche Föderation).

Am 9. Juli 2022 wurde das Gebet zum ersten Mal ohne die ersjanische Flagge abgehalten: die Behörden untersagten nicht nur das Hissen einer ersjanischen Flagge, selbst die bereits aufgehängten Fahnen wurden von den Ordnungskräften entfernt. Nur die Flaggen der Republik Mordwinien und der Russischen Föderation durften gehisst werden.

Warum ist das ein Problem?

Die Ersja sind ein finnisch-ugrisches Volk. Traditionell werden sie mit zwei weiteren Völkern, den Mokscha und den Schokscha, einer größeren Volksgruppe zugeordnet und Mordwinen genannt. Sich selbst bezeichnen sie aber jeweils ausschließlich als Ersja, Mokscha und Schokscha, in ihren Sprachen existiert keine Entsprechung für das Wort Mordwinen. Sie betrachten sich nicht als ein einheitliches Volk und ihre Sprachen nicht als Dialekte einer gemeinsamen Sprache, sondern betonen ihre Selbstständigkeit.

Die Ersja, Mokscha und Schokscha leben vor allem in der Republik Mordwinien in der Russischen Föderation. Ihre Republik hat drei Amtssprachen: Russisch, Ersjanisch und Mokschanisch. Innerhalb der Republik Mordwinien leben aber nur etwa ein Drittel der „Mordwinen“ und stellen ca. 39 % der Bevölkerung. Der Rest lebt in anderen Gebieten und Republiken  Russlands.

Die Ersja leben seit dem 13. Jahrhundert unter starkem russischem Einfluss. Sie wurden christianisiert und größtenteils russifiziert. Politische und Kulturorganisationen setzten sich im 20. und 21. Jh. als Ziel, die Tradition und die Sprache zu erhalten sowie die alte Religion wieder zum Leben zu erwecken.

Das Gebet Rasken ozks

Rasken ozks findet alle drei Jahre im Dorf Čukalо (russ. Tschukali) in einer Senke an einem Bach statt. Der Ort wurde nicht zufällig gewählt: im Jahr 1612 besiegten hier ersjanische Krieger und Vertreter anderer Völker die Nogaier, eine tatarische Horde. An dieser Stelle sollen etwa 11 000 Soldaten begraben liegen: Ersja, Mari, Tschuwaschen und Udmurten. Im Jahr 1629 kamen Ersja aus den Gebieten Nischni Nowgorod und Alatirsk zum ersten Mal hierher, um zu beten.

Bei Sonnenaufgang wird ein mit Blumen geschmückter Opfer-stier geschlachtet, das Fleisch wird in Kesseln gekocht. In der Mitte der großen Lichtung steht der Maar-Hügel, der von den Ersja viele Jahrhunderte lang mit Erde, die sie von ihren Wohnorten mitbrachten, aufgeschüttet wurde. Hier steht die große Kerze des Volkes, erzan štatol, für deren Herstellung ausschließlich Bienenwachs verwendet wird, das von allen Ersja zwischen den Gebeten gesammelt wurde.

Erzianj jurnalist. Собственная работа, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59382431

Rasken ozks ist mehr als ein großes Gebet. Hier diskutieren die Ersja wichtige gesellschaftliche, politische, kulturelle Themen und planen ihre Zukunft. Am Tag des Gebets kommt das höchste ständige repräsentative Organ des ersjanischen Volkes, atan ezem ‘Bank der Ältesten’, zusammen. Die demokratisch gewählten Mitglieder vertreten die ersjanischen Gemeinden und Organisationen. Vor dem Gebet beruft der amtierende erzan inazoro ‘Oberhaupt der Ersja’ den Ältestenrat ein: auf dem Hügel sind im Halbkreis Holzbänke aufgestellt, auf denen die Mitglieder sitzen. Vor dem Gebet werden das neue Oberhaupt und seine beiden Stellvertreter:innen per Abstimmung gewählt. Danach lädt das frisch gewählte Oberhaupt alle Anwesenden ein, sich am Gebet zu beteiligen.

Im Jahr 2022 konnten keine Wahlen stattfinden, da es vielen unmöglich war, zum Gebet anzureisen. Der 2019 gewählt Ältestenrat führt seine Arbeit weiter. Der amtierende inazoro, Bolajen Sires (Oleksandr Bolkin) lebt in der Ukraine.

Heutzutage treten auch Regierungsvertreter:innen Mordwiniens auf die Bühne und halten eine Rede – auf Russisch. 2022 wurde sogar ein „Pseudokönig“ präsentiert, ein Schauspieler, um das Fest wie gewohnt feiern zu können.

Nach den Reden versammeln sich die Menschen um den Maar-Hügel und von der kleinen Lichtung, auf der der Stier geopfert wurde, kommt Ozava, die Gebetsleiterin, mit einer kleinen Kerze. Begleitet wird sie vom weltweit bekannten Folkloreensemble Torama und einer Menschengruppe, die die Volkshelden der Ersja darstellt.

Einer der Ältesten zündet die Stammeskerze an und drückt damit die Einigkeit des Volkes und die Hoffnung auf Wohlstand und auf ein glückliches Leben aus. Ozava hebt ihre Hände zum Himmel und betet laut vor, die Menschen sprechen das Gebet nach. Zuerst werden die Götter und Göttinnen angesprochen, dann die Ahnen, denn die Ersja glauben, dass die Seelen der Vorfahren hier erscheinen werden, um mit ihnen das Gebet zu feiern. Ozava ruft die alten Könige und große Persönlichkeiten der Ersja an, die dem Volk erzählen, wofür sie kämpften und wofür sie gestorben sind.

Anschließend wird ein Pferd mit einem Pflug um den Maar-Hügel geführt, hinter ihm gehen die Ersja, die die mitgebrachte Erde auf den Boden des Maar-Hügels schütten. Das Pferd ist für die Ersja heilig, dem Mythos zufolge wurde es vom Gott Ineškipaz an sie übergeben.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3180049

Heute ist das Gebet ein Volksfest: Überall stehen Stände, an denen authentische und weniger authentische Souvenirs verkauft werden, Sport- und Unterhaltungswettbewerbe, Konzerte finden statt, es wird viel Russisch gesungen und gesprochen. Beim diesjährigen Gebet betonte das Oberhaupt der Republik Mordwinien Artjom Sdunow, dass das Fest in Zukunft noch größer ausgerichtet werden muss. Sdunow sprach auch über die Wichtigkeit des Erhalts der ersjanischen Sprache und Kultur. Umso mehr irritiert es, dass die weiß-rot-schwarze Flagge der Ersja, deren Farben die Heiligkeit des Jenseits tonači, das Leben auf der Erde mit Feuer und Blut und die Erdengöttin Mastorava symbolisieren, nicht gehisst werden durfte. Aktivisten und Aktivistinnen stellen die Frage, ob bald auch der Gebrauch der ersjanischen Sprache verboten wird.

Hier kann man sich das Gebet anschauen:

Quellen:

https://www.idelreal.org/a/31939872.html

https://erzianj-jurnal.livejournal.coм/61529.html

Mészáros, Edit – Molnár, Judit (2005): A mordvinok. In: Pusztay, János (ed.). A Volga- Káma-vidék finnugor népei. Szombathely: Az Uralisztika Tanszék kiadványai 11. 9-37.

Titelbild: Петрянь Андю. Собственная работа, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2963195

Tag der Muttersprache

Am 21. Februar 2020 wird jetzt offiziell zum 20. Mal der Internationale Tag der Muttersprache gefeiert. Aber dieser Gedenktag hat nicht nur die Funktion, seine Muttersprache zu feiern, er dient vielmehr der „Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit“.

Genau deswegen ist dieser Tag ein wichtiger Tag unter anderem für die finnisch-ugrischen Völker. Denn außer Finnisch, Ungarisch und Estnisch gehören zu dieser Sprachfamilie auch noch viele weitere kleine Sprachen. Für solche kleinen Sprachen ist die Pflege der Sprache sehr wichtig, da aufgrund der unterschiedliche Hauptsprachen in den jeweiligen Ländern diese oft vernachlässigt werden. Das führt dann dazu, dass diese Minderheitensprachen schnell gefährdet sind. Und da mittlerweile gut die Hälfte aller rund 6700 Sprachen auf der Welt vom Aussterben bedroht ist, wurde von der UNESCO dieser Tag ausgerufen, um die Sprachen und die Sprachpflege zu fördern. Denn mit jeder aussterbenden Sprache geht auch immer ein Stück Kultur verloren.  

 „When languages fade, so does the world’s rich tapestry of cultural diversity.“

Quelle: https://www.un.org/en/observances/mother-language-day

Der historische Grund für den Ausruf dieses Tages findet sich am 21. Februar 1952. An diesem Tag wurde gegen die Einführung von Urdu als Amtssprache in der pakistanischen Provinz Bengalen protestiert. Denn dafür sollte Bengali zurückgedrängt werden, obwohl es in der Bevölkerung viel mehr vertreten war als Urdu.

Heutzutage wird man sich immer bewusster darüber, dass die Pflege der Sprachen eine große Rolle in der Kultur spielt, zum Beispiel für stärkere Kooperation und auch qualitativ hochwertige Bildung.

Quellen:

https://www.un.org/en/observances/mother-language-day

https://www.unesco.de/kultur-und-natur/kulturelle-vielfalt/21-februar-ist-internationaler-tag-der-muttersprache

Bildquelle:

https://pixabay.com/de/illustrations/fahnen-l%C3%A4nder-staaten-flaggen-welt-69190/

Chiara Stephan, HG Göttingen, Praktikantin

Was ist das Besondere an den Liven?

Sprachen sind alle einzigartig, das ist klar. Aber manche sind durch die aktuelle Situation, Geschichte oder Sprachstruktur einfach ein bisschen interessanter. Seitdem ich 2016 in Kurland bei der livischen Sommer­schule war, hat mich die Sprache irgendwie gepackt. Nach der einen Woche an der schönen und kalten kurländischen Küste habe ich mir Vokabel­karten geschrieben, sie sogar gelernt (!) und meinen Freunden nur noch „Gute Nacht“ auf Livisch gewünscht. „Jõvvõ īedõ!“

Aber warum? Was ist so besonders am Livischen? Vielleicht, dass die Sprache ausgestorben, aber trotzdem nicht tot ist. Dass es keine Muttersprachler mehr gibt, ist kein Hindernis für all die begeisterten Livisch-Lernenden. In Tartu gibt es livische Sprachkurse und jeden Sommer gibt es Schulen für Kinder, die Livisch lernen wollen. Man möchte die Sprache wiederbeleben. Ob diese Maß­nahmen so viel bringen, weiß man nicht. Vielleicht sollte man doch lieber seine eigenen Kinder mit Livisch als Muttersprache großziehen. (Das ist ja immernoch heimlich mein Ziel – mir fehlt nur ein Livisch sprechender Mann dazu.)

Doch wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass das Livische ausgestorben ist? Vor dem 13. Jahrhundert waren die Liven noch ziemlich groß. Größer als die Letten. Die Liven lebten um den Rigaer Meerbusen und hatten durch das Meer und die Flüsse wichtige Handelswege gesichert. Aber die Liven waren kein riesiges Imperium, was mit einem starken Anführer die umliegenden Völker abge­schlachtet hat. (Vielleicht hätten sie genau das tun müssen, um jetzt noch aktiv zu sein, wer weiß…) Es gab fünf livische Stämme mit lokalen Anführern und ohne gemeinsames Zentrum. Anfang des 13. Jahrhunderts kamen die Deu­tschen und Riga wurde gegründet. Dadurch waren Livland und Kurland und somit das livische Siedlungsgebiet getrennt. In den folgenden Jahrhunderten starben die Liven durch Krieg und Krankheiten und ihre Identität durch die Assi­milierung mit den Letten. Als das Schrifttum in diesem Gebiet gefördert wurde, wurde das Livische von den einheimischen Sprachen dort am wenigsten geför­dert. Das Bürgertum war deutsch und für die Bauernbevölkerung musste wohl eine Sprache in Kirchen und Schulen genügen: das Lettische. Und das galt bis heute.

Dabei ist das Livische doch so interessant! Und sehr zeitsparend. In Bezug auf die Kürze ist das Livische nämlich unschlagbar – sogar im Vergleich zum Estnischen, was man an folgenden Wörtern ganz gut sehen kann: kūvaʼl (est. kuuvalgus ‘Mondlicht’), īʼž (est. isegi ‘sogar’), jūs (est. juures ‘bei’), pand (est. pannud ‘gestellt’).

Ein paar Fakten zur Sprache:

  • Lange Vokale werden wie im Lettischen durch einen Längenstrich markiert, z. B. sūr (est. suur ‘groß’), (est. luu ‘Knochen’); sogar über schon markierten Vokalen: lǟlam (‘schwer’)
  • Es gibt wie im Estnischen den reduzierten Vokal õ, z. B. als Infinitivendung (vȯtšõ ‘suchen’, irgõ ‘anfangen’, kītõ ‘fragen’). Auch schön ist das Wort für Abend: ȭdõg
  • Es gibt palatalisierte (weiche) Konsonanten, die durch eine Cedille, das kleine “Komma” hier unter rr und tt, markiert werden, z. B. kuoŗŗõ ‘sammeln’, kuoțțõ, Partitiv von ‘Tasche’.
  • Es gibt einen Stoßton (= Knacklaut), den heute im Livischen wahrscheinlich keiner mehr richtig aussprechen kann, der aber trotzdem bedeutungsunterscheidend sein kann: mit Stoßton bedeutet tu‘ļ ‘Feuer’ und ohne tuļ ‘er kam’. Dieser glottale Verschlusslaut wird phonetisch als ʔ transkribiert und es gibt ihn auch im Dänischen. Gut beschrieben wird er für das Dänische auch hier.
  • Im Wort können Vokal- und Konsonantwechsel auftreten, die es schwierig machen, zusammengehörige Formen zu erkennen: lǟ’dõ : ligīd (Imperativ 2. Pers. Pl.) ‘gehen’, ǭla : allõ (Part.) ‘Nachtfrost’, tei : tēd̜i Part.Pl. ‘Laus’, sǭdõ : sai (Prät. 3. Pers. Sg.) ‘bekommen’
  • Unterschiedliche grammatische Formen (z.B. Verbformen oder Kasus) sind zusammengefallen, d.h. der Kontext ist nicht gerade unwichtig. Z. B. sind die Formen der 1. und 3. Person Singular im Präsens gleich, deswegen braucht man das Personalpronomen: ma tulāb : ta tulāb ‘ich komme; er kommt’. Kruțk ‘Stelze’ hat im Partitiv, Dativ, Instrumental und im Illativ Singular die selbe Form: kruțkõ.

Zum Abschluss noch ein paar Links, die ihr euch unbedingt anschauen solltet:

Livisch-estnisches Wörterbuch:
sonad.oahpa.no/livM/est/

Viel mehr zu den Liven:
www.livones.net/en
fennougria.ee/rahvad/laanemeresoome-rahvad/liivlased/

Facebookseiten:
www.facebook.com/livonianlanguage/
www.facebook.com/livuval/
www.facebook.com/livones.net/

Bildquelle: pixabay
Text: Karin Fichtner

Albert Rasin – der Wissenschaftler, der für seine Sprache starb

Aus Sorge um seine Muttersprache zündete sich der udmurtische Wissenschaftler Albert Rasin im September 2019 in Ischewsk vor dem Gebäude des udmurtischen Parlaments an. Er protestierte gegen das neue Sprachgesetz Russlands, das die Position der Minderheitensprachen schwächt.

Am 10. September versammelten sich Abgeordnete und Mitglieder der Regierung zur nächsten Sitzung des udmurtischen Parlaments. Vor dem Gebäude saß ein älterer Mann. Seine Anwesenheit war nichts Aussergewöhnliches, denn viele Menschen, die den Behörden etwas mitteilen wollen, kommen vor der Sitzung hierher, weil sie hier alle wichtigen Persönlichkeiten der Politik treffen können: Abgeordnete, Minister, die Stadt- und Bezirksleitung.

Albert Rasin hielt zwei Plakate. Auf einem stand: Habe ich noch eine Heimat? Auf dem zweiten – ein Zitat des Dichters Rassul Gamsatow: Wenn meine Sprache morgen verschwindet, bin ich bereit, heute zu sterben. Rasins Begleiter verteilte ein Schreiben über die Lage der udmurtischen Sprache. Dann schaltete er seine Videokamera ein und bat Rasin, über die Aktion zu erzählen. Auf dem Video wirft Rasin der Politik vor, nichts für die Aufrechterhaltung der udmurtischen Sprache und Kultur zu tun.

Nach einiger Zeit verließ Rasin seinen Posten, fuhr nach Hause, zog sich um und kehrte dann zurück. Er nahm ein Feuerzeug und zündete sich an. Sein Begleiter versuchte, das Feuer zu löschen, aber dem Wissenschaftler kam jede Hilfe zu spät: er erlitt schwere Verbrennungen am ganzen Körper und starb wenige Stunden später im Krankenhaus.
 
Mit seiner Selbsttötung protestierte Rasin gegen das neue Sprachengesetz Russlands, das, wie er fand, die udmurtische Sprache als Sprache zweiten Ranges behandelt. Wie viele Vertreter anderer Minderheitensprachen der Russisschen Föderation fragte er sich auch, warum Kinder in der Schule Fremdsprachen lernen müssen, die eigene Muttersprache jedoch nicht. In seinem Schreiben schlug er Maßnahmen vor, die seiner Meinung nach für das Überleben der udmurtischen Sprache und des udmurtischen Volkes notwendig sind. Er plädierte dafür, das Bildungsgesetz zu ändern und die udmurtische Sprache in den Schulen verpflichtend zu unterrichten. Er hat auch gefordert, dass in Udmurtien zweisprachige Ortstafeln und Straßenschilder angebracht werden. Die Aufrechterhaltung der udmurtischen Kultur in den Dörfern war für ihn ebenfalls eine Herzensangelegenheit.

Die Meinungen zu Albert Rasins Selbsttötung sind geteilt. Einige Politiker sprechen von geplanter Provokation und sind der Meinung, Rasin habe keinen Grund für die Tat gehabt. Es gäbe doch genug Bemühungen, die Sprache zu erhalten, Rasin habe sich aber mit modernen Lösungen und Methoden nicht identifizieren können.

Zur Stellung des Udmurtischen in der Udmurtien

Eingang des Ministeriums für Sport und Tourismus der Republik Udmurtien
© Tina Fricke

Die Republik Udmurtien hat ca. 1,5 Millionen Einwohner. Die Udmurten machen 30 % der Bevölkerung aus, 60 % der Bevölkerung sind Russen. Udmurtisch wird  hauptsächlich in den Dörfern gesprochen. Die gößeren Städte – Ischewsk, Wotkinsk und Glasow – sind russischsprachig. Schülerinnen und Schüler, die die obligatorische Zentralabiturprüfung in Russisch, die auch als Aufnahmeprüfung für die Hochschulen dient, nicht ablegen, weil sie in der Schule Udmurtisch belegten, können nicht studieren. Das ist ein Grund, warum Rasins Anliegen selbst von Gleichgesinnten nicht bedingungslos unterstützt wird. Die Bildung einer nationalen Intelligenz – egal, in welcher Sprache – ist für viele wichtiger als der Erhalt der udmurtischen Sprache und Traditionen. Viele finden, dass die Vorstellung Rasins, zu den Wurzeln der udmurtischen Kultur zurückzukehren, nicht realisierbar und nicht mehr zeitgemäß ist.

Die nationale Intelligenz bemüht sich, die udmurtische Sprache im modernen städtischen Leben zu etablieren. Viele erinnern sich noch an die Gesangsgruppe Buranowskije Babuschki, die Russland beim Eurovision Song Contest 2012 in Baku vertreten und dort den zweiten Platz belegt hat. Die Gruppe singt auch udmurtischsprachige Lieder und dient als Vorbild für Rock- und Popbands, die ebenfalls auf Udmurtisch singen. Es gibt udmurtische Bücher, Filme, Webseiten und Blogs, Designer entwerfen Kleidung nach alten udmurtischen Mustern. All diese Bemühungen konnten Albert Rasin nicht überzeugen.

Änderungen im Sprachengesetz der Russischen Föderation

Seit dem Sommer 2018 lernen Schulkinder in den Nationalrepubliken Russlands nicht mehr verpflichtend die Sprache der dortigen Titularnation. Sie, bzw. ihre Eltern müssen sich vor dem Eintritt in die erste, bzw. fünfte Klasse für eine „Muttersprache“ entscheiden. Das kann auch Russisch sein, welches ohnehin ein Pflichtfach ist. Alternativ kann eine nichtrussische Muttersprache erlernt werden. Bei einer Entscheidung für Russisch wird die Stundenzahl im Fach Russisch erhöht. Was die Sprachen der Titularnationen betrifft, ist zu befürchten, dass ethnisch russische Schülerinnen und Schüler diese viel weniger lernen werden als bisher. Weil das Prestige des Russischen unvergleichbar höher ist als das der Minderheitensprachen, besteht die Gefahr, dass sich Verterterinnen und Vertreter dieser Minderheiten ebenfalls für das Russische entscheiden werden.

Quellen:
https://www.bbc.com/russian/features-49745671
http://duma.gov.ru/news/27720
/
https://udmpravda.ru/tag/albert-razin/ 

Bilderrechte: © Tina Fricke