Hytti nro 6: Eine (ärgerlich) freie Adaption

Am 29. Oktober ist die Filmadaption des Romans „Abteil Nr.6“ (Finnisch: Hytti nro 6) von Rosa Liksom in die finnischen Kinos gekommen. Die finnisch-russische Produktion des Regisseurs Juho Kuosmanen besticht durch eindringliche Bilder von rauer Schönheit und begabte Schauspieler*innen. Wer die Buchvorlage kennt und schätzt, wird allerdings enttäuscht.

Der Film erzählt von Laura, einer jungen finnischen Frau, die allein mit der transsibirischen Eisenbahn nach Murmansk reist. Eigentlich hätte ihre Lebensgefährtin, die ältere Literaturprofessorin Irina, sie begleiten sollen. Die hat aber mit der Arbeit zu tun, und so landet die angehende Archäologiestudentin in einem Abteil mit dem jungen russischen Arbeiter Ljoha. Zwischen den grundverschiedenen Reisenden entspinnt sich eine ungewöhnliche Beziehung.

Künstlerisch beeindruckt Hytti nro 6. Die Kameraführung bleibt oft nah an den Charakteren, so nah, dass man Wodka, Gurkenglas und Körpergeruch in der engen Zugkabine beinahe riechen kann. Durch abwechslungsreiche Einstellungen und Lauras Videorekorder wird die Schönheit der russischen Winterlandschaft gezeigt, die hinter den von Schnee besprenkelten Zugfenstern vorbeizieht. Die Schauspieler*innen überzeugen in ihren Rollen. Besonders Yuri Borisov verkörpert den zunächst stumpf-aggressiven Ljoha, der sich im Verlauf der Reise immer verletzlicher zeigt, äußerst glaubhaft. Dass er, anders als im Buch, kein grobgliedriger Mann mittleren Alters ist, sondern ein etwas tollpatschiger dünner Typ Anfang dreißig, stört wenig – der stereotype hartgesottene Russe wird so mit Laura (Seidi Haarla) auf eine Ebene geholt, wirkt ihr körperlich nicht überlegen. Auch dass der Film konsequent in russischer Sprache (mit finnischen Untertiteln) ist, fühlt sich stimmig an. Der finnische Akzent und das leichte Stocken in Lauras Sprechen passen sich gut ins Gesamtbild ein.

Inhaltlich aber enttäuscht die Verfilmung. Denn statt der emotionalen Komplexität des Romans, die mutig, stellenweise auch zumutend ist, finden sich im Film nur auf einfache Konzepte reduzierte Figuren: die promiskuitive lesbische Intellektuelle, die ihre junge Liebhaberin bei erster Gelegenheit fallen lässt. Die junge Frau, die auf einer Reise nach sich selbst sucht und sich unerwartet verliebt. Der halbkriminelle Arbeiter, unter dessen harter Schale sich ein wollweicher Kern verbirgt.

Während im Roman Landschafts- und Milieubeschreibungen und die schier endlosen, von Gewalt und Obszönitäten beladenen Monologe des Mannes Stimmung und Inhalt färben, wird der Film mit ein paar gewollt tiefsinnigen Sätzen gewürzt, die aber nur ins Leere führen. Denn richtige Probleme gibt es eigentlich nicht. Laura ist nicht wirklich in Irina verliebt, während der Reise wird sie das erkennen. Ljohas aggressive Übergriffigkeit verliert sich nach der ersten Filmhälfte ins Nichts. Die Trauer um den Verlust des Videorekorders, auf dem nicht nur die Reise, sondern auch die schönen Momente mit Irina festgehalten sind, hält etwa drei Sekunden. Die Leichtigkeit, die daraus resultiert, passt vielleicht in den Film, nicht aber zu den Erwartungen, die man nach der Romanlektüre an ihn heranträgt.

Die Verfilmung widmet sich der Geschichte einer jungen Frau, die noch nicht weiß, wonach sie eigentlich sucht. Es folgt eine sich zart entwickelnde Romanze, die an den unterschiedlichen Welten der Protagonist*innen scheitert. Eingebettet wird alles in die wirklich beeindruckenden Weiten und Lebenswelten des winterlichen Russlands. Wären die nicht gewesen, hätte ich gesagt: den Film habe ich sicher schon zwanzig Mal gesehen. Und vielleicht ist es das, was mich ärgert: das verschenkte Potential.

Text: Franziska Kraushaar
Bild: Julia Kadel auf Unsplash

Master Cheng in Pohjanjoki

Der Meisterkoch Cheng (Chu Pak Hong) aus Shanghai steigt mit seinem kleinen Sohn Nunjo (Lucas Hsuan) in dem finnischen Kleindorf Pohjanjoki im dünnbesiedelten Lappland aus dem Bus. Er geht in das lokale Gasthaus – viel Anderes gibt es in dem Ort auch nicht – und fragt höflich nach Fongtron. Aber niemand scheint Fongtron zu kennen. Abends, als die Wirtin Sirkka (Anna-Maija Tuokko) ihr Gasthaus schließen will, sitzt der Chinese mit seinem Sohn immer noch vor seiner Teetasse und hofft, Fongtron zu finden. Sirkka bietet Cheng und Nunjo eine Unterkunft an und versucht zusammen mit weiteren Dorfbewohnern das Fongtron-Rätsel zu lösen. Cheng landet in Sirkkas Gasthausküche und begeistert mit seinen Köstlichkeiten nicht nur die chinesischen Touristen, sondern nach Überwindung der Vorurteile auch das ganze Dorf, das bisher nur Sirkkas Kartoffelbrei und Würstchen gewohnt war. Bald spricht es sich herum, dass sein Essen nicht nur köstlich ist, sondern sogar heilsame Kräfte hat.

Der finnische Regisseur Mika Kaurismäki wollte einen positiven Film über die Begegnung der Kulturen machen. In einer Welt voller Hassrede und Populisten wollte er einen Feelgood-Film drehen, der Menschen verbindet. Das ist Mika Kaurismäki mit der Dramakomödie Master Cheng in Pohjanjoki sehr gut gelungen. Es ist ein warmherziger und ruhiger Film ohne Gewalt und überflüssige Wendungen oder Schnickschnack im Plot. Er ist langsam und baut auf die Präsenz der Schauspieler, auf Stimmung und Landschaft und auf kleine Details. Die schönen, nordfinnischen Landschaften kombiniert mit den nicht weniger schönen Köstlichkeiten der chinesischen Küche bieten einen ästhetisch perfekten Ausgangspunkt für Völkerverständigung.

Chu Pak Hong, Kari Väänänen und Mika Kaurismäki

Meister Cheng wurde 2018 in Raattama, einem kleinen Dorf in Kittilä, Lappland gedreht. Die Dreharbeiten dauerten ca. sechs Wochen, was etwa eine Woche länger ist als normalerweise. Die Filmcrew integrierte sich in die Dorfgemeinschaft, wie Cheng im Film, so dass bei den Arbeiten mehr oder weniger die gesamte Dorfbevölkerung, 120 Menschen, beteiligt war. Das Budget betrug 2,9 Millionen Euro, was etwa doppelt so viel ist, wie bei einem finnischen Durchschnittsfilm.

Mit dabei sind natürlich Kaurismäkis Vertrauensschauspieler Vesa-Matti Loiri und Kari Väänänen als alte Stammkunden. Zu hören gibt es auch Loiris Interpretation des Gedichts Lapin kesä (Sommer in Lappland) von Eino Leino, das seit den 1960ern zu den beliebtesten Liedern in Finnland gehört. Sonst ist die sehr gut zu der ruhigen Stimmung passende Filmmusik von Anssi Tikanmäki komponiert, der bereits in den 1980ern für die Musik bei Kaurismäkis frühen Werken zuständig war.

Die finnisch-chinesische Gemeinschaftsproduktion hatte ihre Premiere im September 2019 in Finnland. Auf den 61. Nordischen Filmtagen in Lübeck wurde Master Cheng mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Der deutsche Verteiler MFA+ Filmdistribution hat den Kinostart in Deutschland für den 30. Juli 2020 festgelegt.

Das Fongtron-Rätsel wird im Übrigen gelöst.

Quellen:

https://yle.fi/uutiset/3-10989464

https://yle.fi/uutiset/3-10980545

http://www.film-o-holic.com/haastattelut/mika-kaurismaki-mestari-cheng/

https://www.mfa-film.de/kino/id/master-cheng-in-pohjanjoki/

Bilder: Marianna Films Oy 2019