(K)eine Literaturverfilmung – Zur Analyse einer Filmadaption

Dass kein Buch 1:1 in einen Film umgesetzt werden kann, da in beiden Medien das Zeichensystem und die einhergehende semiotische Differenz berücksichtigt werden müssen, ist heutzutage verstanden. Allerdings wird es noch nicht begriffen: Für viele habe sich der Film in ästhetischen Normen immer noch der Literatur anzupassen.[1] Während sich die schriftliche Lektüre verbalsprachlich ausdrückt, wird die Erzählung im Film audiovisuell illustriert. Somit unterliegt der Film anderen ästhetischen Konventionen sowie technischen Bedingungen als das Buch.[2] Aufgrund des unzulänglichen Begriffs Literaturverfilmung, der insbesondere eine externe Zuschreibung darstellt, versucht sich die Literaturwissenschaft an einen neuen Begriff. Die deutsche Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider definiert die Literaturverfilmung beispielsweise als Transformation von einem Zeichensystem zu einem anderen. Als alternativer Begriff ist aber auch die Adaption zu nennen, die sich der schriftliterarischen Vorlage anpasst.[3]

Nach dem deutschen Literaturhistoriker Helmut Kreuzer gibt es vier Arten der Literaturadaption: Bei der Aneignung von literarischem Rohstoff werden lediglich Handlungselemente oder Figuren aus der Buchvorlage übernommen. Überdies werden diese dann in einen autonomen Filmkontext umgesetzt. Die zweite Adaptionsart repräsentiert die Illustration, die bebilderte Literatur. Neben der Übernahme von Figurenkonstellation und wörtlichem Dialog, versucht sich der Drehbuchautor so weit wie im neuen Medium möglich, an den Handlungsvorgang zu halten. Allerdings darf die Illustration nicht mit der Vorstellung von Werktreue gleichgesetzt werden. So wirkt das für die Lektüre geschriebene Wort im Lesekontext anders als im Film. Als dritte Art ist die interpretierende Transformation zu nennen. Dafür wird zunächst die Aussage und dessen Wirkung aus der Textvorlage interpretiert. Anschließend wird der schriftliche Text in filmische Codes übersetzt, um ein analoges Werk zu generieren. Die letzte Art der Literaturadaption meint die Dokumentation, in dem unter anderem Theateraufführungen aufgenommen werden. Schlussendlich ist festzuhalten, dass sich die Filmadaption selten einer Reinform bedient, sondern sich aus verschiedenen Arten zusammensetzt.[4]

Bei der Transformation beziehungsweise Adaption von der Lektüre zum Drehbuch liegt der Schwerpunkt auf den Prozess der Umsetzung, der jedoch drei Beeinträchtigungen mit sich bringt. Erstens ist der Film im Gegensatz zum Buch nicht durchgehend in der Lage, die Innenwahrnehmung beziehungsweise subjektive Meinung einer Figur darzustellen, sodass häufig eine Außensicht auf die erzählte Welt gewählt wird. Zweitens werden im Film maßgeblich mehr Bewegungen im Raum sowie der Zusammenhang der Gegenstände bestimmt. Während der literarische Erzähler es schafft, die Figur detailliert und kraftvoll in Szene zu setzen, beeinflussen Hintergrund, Gegenstände, Licht und Farbe das Bild. Die Figur tritt insofern als Teilelement auf. Als letztes muss darauf hingewiesen werden, dass das filmische Erzählen konkreter vonstatten geht als das literarische Erzählen. So hat die Kamera unter anderem die Aufgabe aus Unmengen von Dingen die Reizelemente herauszulösen, die das Publikum ausschließlich informieren sollen.[5]

Letztendlich besteht die Kunst der DrehbuchautorInnen darin, die Lektüre in seine Beschränkung und Vereinfachung auf das Wesentliche zu komprimieren, das zu definieren, was sie für wesentlich halten. Dabei sollte die Kunst des Unerwarteten und Ideenreichtums nicht außer Acht gelassen werden.[6] Somit wird die Adaption und Transformation zur Interpretationsbühne der DrehbuchautorInnen und RegisseurInnen. Anders als im Buch verlangt die Erschließung des Films eine Analyse der visuellen, auditiven und narrativen Ebene sowie von deren Zusammenspiel. Insofern etabliert sich eine eigene Filmgrammatik aus Bild, Ton und Montage.[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Jon Tyson auf Unsplash


[1] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10-13.
[2] Vgl. ebd. S. 81-87.
[3] Vgl. ebd, S. 11f.
[4] Vgl. Helmut Kreuzer: Arten der Literaturadaption, in: Gast, Wolfgang (Hg.): Literaturverfilmung, Bamberg 1993, S.27-31, hier S. 27-30.
[5] Vgl. Thomas Koebner und Peter Ruckriegl: Literaturverfilmung, in: Koebner, Thomas (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 410-413, hier 410f.
[6] Vgl. Michel Chion: Techniken des Drehbuchschreibens, Berlin 2001, S. 102.
[7] Vgl. Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: Die Filmerzählung. Eine Einführung, Paderborn 2016, S. 166f.

Das Licht in deinen Augen

Turku ist eine Stadt voller Kultur und Literatur, und auch der Schriftsteller und Lehrer Tommi Kinnunen wohnt hier. Zwei seiner vier erschienen Werke wurden bereits ins Deutsche übersetzt. Während der Debutroman Wege, die sich kreuzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt, folgt der zweite Roman der begonnenen Familiengeschichte weiter bis in die späten 80er, frühen 90er Jahre, und kann auch alleinstehend gelesen werden.

Das Licht in deinen Augen (finnisch Lopotti) erzählt die Geschichte zweier Menschen, denen ein Leben im gesellschaftlichen Abseits vorherbestimmt scheint: Helena wächst in den vierziger Jahren heran. Als Säugling erblindet, muss sie als Kind ihre Familie in Nordfinnland verlassen, um in Helsinki auf eine spezielle Schule zu gehen. Dort erkämpft sie sich ein eigenständiges Leben. Fast vierzig Jahre später lässt ihr Neffe Tuomas das gleiche Dorf zurück, in dem er sich ebenfalls nicht willkommen fühlt, denn er ist homosexuell. Episodenhaft werden Kindheit, Erwachsenwerden und Leben der beiden Figuren miteinander verwoben, ihre Perspektiven aufeinander, auf ihre Familie und die Welt zu einem komplexen Gefüge zusammengesetzt, in dem es keine einfachen Antworten gibt.

Beeindruckend ist die sanfte, poetische Sprache, mit der Kinnunen vom Schmerz seiner Figuren erzählt. Die neunjährige Helena lässt sich von ihrem Drachen in einen Sturm fortziehen, als ihr Vater ihr sagt, dass sie auf die Blindenschule fortgeschickt wird, fast 800 Kilometer in den Süden: „Der Wind riecht nach Tannennadeln und Moor. Unten streckt die Kälte ihre Fangarme aus und versucht, mich zu packen, schafft es aber nicht. Ich bin so hoch oben, dass der Winter mich nicht erreicht. (…) Der Sturm zieht mich nicht mehr höher, sondern trägt mich nach Norden, wo die Zeit stillsteht und der Frühling nie kommt und keiner jemals weggehen muss.“ (S. 106) Der jugendliche Tuomas wiederum kann sich zumindest auf den bevorstehenden Abschied vorbereiten, als er in Alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten über Homosexualität liest, sie sei „ein Makel, den man durchs Leben tragen muss“ (S. 107): „Es scheint noch kälter zu werden. Tuomas wickelt sich den Schal vor den Mund und versucht, durch ihn hindurch zu atmen. Er hat vor, alle Wege und Wohngebiete des Dorfes zu durchstreifen. Sich die Routen und jedes Gebäude einzuprägen, die hohen, gebogenen Kiefern in den Wäldern und die unter dem Schnee begrabenen Büsche. Er nimmt schon jetzt Abschied von diesen Orten, obwohl er noch nicht wegzieht. Doch dieser Moment rückt mit jedem Tag näher.“ (S. 113)

„Jeder Mensch muss entscheiden, ob er sich vor der Welt fürchten will oder nicht.“ (S. 45) Das ist der Leitsatz von Helenas Mutter, Tuomas‘ Oma, die wenig Verständnis aufbringt für Andere. Die nicht zugeben will, dass ihre Familie aus „Lopotti“ stammt, dem Dorf der verrufenen Frauen. Deren schlimmstes Urteil ist: „Er ist anders als die anderen.“ Die damit die Einsamkeit, in der sie selbst gefangen ist (denn sie ist das uneheliche Kind der verrufenen Frau aus Lopotti), an ihre Nachkommen weitergibt.

So bewahrt die Erzählung die Balance im Aufzeigen der äußeren und inneren Faktoren, die besonders die beiden Hauptfiguren zu Beginn ihres Lebens zum Außenseitertum bestimmen. Überschattet wird alles vom Selbstmord des Vaters/Großvaters, dessen Homosexualität noch gesetzlich kriminalisiert wurde. Trotzdem finden Helena und Tuomas nach und nach den Mut, ihr Leben so selbstbestimmt und mutig zu gestalten, wie es eben geht. Helena lässt ihren Vater und damit auch seine Haltung des Sich-Aufgebens zurück. Als Tuomas sich ihr schließlich als erste in der Familie offenbart, gibt sie ihm den unausgesprochenen Rat, der wohl der Kern des Buches ist: „Du hast deine schwache Stelle freigelegt wie ein Hund seine Kehle und hast Angst, dass ich meine Zähne hineinschlage. (…) Verwandle dich nie, weil ein anderer es will. Man muss nur sich selbst genügen, nicht den anderen. Und auch wenn nicht alle Geschichten Liebesgeschichten sind, sind sie nicht misslungen, vergiss das nicht.“ (S. 275 ff.)

Das alte Tolstoi‘sche Zitat kehrt sich im Verlauf ihrer beider Leben um – zwar sind alle auf ihre eigene Art unglücklich, aber in ihrem Unglück treten ihre Unterschiede in den Hintergrund. „In meinem Leben gibt es nichts, was nur einer verstehen könnte, der anders ist als die anderen“, resümiert Helena vor Tuomas, „In deinem wohl auch nicht.“ (S. 277) Während sich Tuomas und sein Partner nach einem Kind sehnen, treibt Helena immer wieder ab, aus Angst, der Mutterrolle nicht gerecht zu werden. „Du begreifst doch sicher, dass der Raum in dieser Wohnung, der das Kinderzimmer werden sollte, immer noch hallig und leer ist? Ich habe ihn mit meinen eigenen Entscheidungen möbliert und fühle mich dort wohl. Es geht im Leben nicht darum, glücklich zu sein.“ (S. 291f.) Aber auch ihr „normaler“ Exmann, der sich den Vaterwunsch schließlich mit einer anderen, sehenden Frau erfüllt, findet keine goldene Erfüllung darin: „Du erzählst den anderen, du wärst endlich ein richtiger Mann. Sie nicken und trinken bereitwillig das Bier, das du ihnen ausgibst. Du bist die Hilfsbedürftige los und bist nun ein ernst zu nehmender Vater, bildest eine neue Kernfamilie in der Gesellschaft. Vermehrst dich und füllst die Erde. Wenn du nach Hause gehst, kotzt du alles in den Rinnstein, alles außer deiner Verbitterung.“ (S. 290)

Das ist es vielleicht, was diesen Roman so besonders macht – es gibt kein Happy End, keine einfachen Lösungen oder endgültig zufriedenstellende Antworten. Gesellschaftliche Umstände wie gesetzliche und soziale Diskriminierung sind gut recherchiert und werden nicht beschönigt, dienen aber nicht zur Dramatisierung. Sie sind nur Teil des Hintergrunds der Figuren, deren Lebensgeschichten immer weiter gehen, immer wieder zeigen, dass die Wirklichkeit in ihren fröhlichen und grausamen Momenten doch nicht so trüb bleibt wie die Befürchtungen der Menschen, die ihr ausgesetzt sind. Die aus ihrer Einsamkeit nie ganz herausfinden und sich doch immer wieder begegnen können, im Dialog, in Gedanken oder nicht zuletzt in der Geschichte vom Gutshof Pieselfall.

Text: Franziska Kraushaar

Kinnunen, Tommi. Das Licht in deinen Augen. Penguin Verlag 2019, übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara
Kinnunen, Tommi. Lopotti. WSOY 2016
Tommi Kinnunen – WSOY: https://www.wsoy.fi/kirjailija/tommi-kinnunen
Hakutulos – Suomen kirjallisuuden käännökset – SKS (finlit.fi): http://dbgw.finlit.fi/kaannokset/lista.php?order=author&asc=1&lang=FIN

Titelbild: Frans Leivo auf Unsplash

Buchvorstellung: Terézia Mora – Alle Tage (2004)

Der 2004 erschienene Debütroman „Alle Tage“ von Terézia Mora handelt von Abel Nema, einem heimatlosen Sprachgenie. Geschrieben wurde der Roman auf Deutsch, da es sich bei Terézia Mora um eine Ungarndeutsche handelt.


Ein Mann aus einem Land, das es gar nicht mehr gibt – Das ist Abel Nema. „Eigentlich […] ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist“ (S. 13). Immer in schwarz gekleidet und wortkarg, auch wenn er zehn Sprachen zur Perfektion beherrscht. Hat man ihn überhaupt jemals in diesen Sprachen sprechen hören, wenn es nicht seiner Arbeit diente? Er wächst in einem Land auf, bei dem es sich vermutlich um Jugoslawien handelte. In der Nacht seiner Abiturfeier gesteht er seinem besten Freund seine Liebe – und stößt auf Ablehnung und Ekel. Nach einem Gasleck in einer Wohnung hat sich etwas verändert: Er kann sich plötzlich ohne Anstrengung jede Sprache aneignen, die er hört. Allerdings ist sein Geschmacks-, Geruchs- und Orientierungssinn verschwunden. Fliehend vor dem Krieg und der Zurückweisung seines ehemaligen Freundes, landet er irgendwann in einem anderen Land, bei dem es sich vermutlich um Deutschland handelt. Dort scheint zunächst alles gut zu verlaufen. Er findet Unterkunft bei einem anderen Emigranten, bekommt einen Sponsor für ein Studium aufgrund seines linguistischen Talents und lernt im Sprachlabor zehn Sprachen. Somit ist er um ein Vielfaches erfolgreicher als andere Emigranten, die sich mit Putzjobs und Musikauftritten über Wasser halten – oder auch nicht über Wasser halten und Obdachlosigkeit, Suizid und Gewalt erleben.
Nach einer Razzia zieht er zu einer weiteren Emigrantin, Kinga, die eine Band hat; jeden Abend wird getrunken und geraucht. Nur nicht von Abel, der inzwischen bemerkt hat, dass er nicht betrunken werden kann. Sein Studium und das Sprachlabor hat er derweil aufgegeben, schreibt aber noch an seiner Dissertation. Kinga stellt mit ihrem Charakter, der Wut, Lust, Verzweiflung und eigene Meinung frei ausdrückt, einen krassen Gegensatz zu dem reservierten Abel dar. Trotzdem, oder genau deswegen, ist sie in Abel verliebt. Er zieht danach noch zwei weitere Male um, einmal neben eine Fleischerei, einmal neben einen Sexclub. Irgendwann beginnt er, seinem zukünftigen Stiefsohn Omar Russisch beizubringen. Später wird ihm sein Laptop von einem Jungen geklaut. Nur darauf war seine unfertige Dissertation gespeichert.
In seiner bis dato letzten Wohnung fängt er an, in die „Klapsmühle“, den Sexclub in seiner Nachbarschaft zu gehen. Er beobachtet jedoch nur und beteiligt sich nicht an den Geschehnissen dort. In diesem Zeitraum lernt Mercedes ihn ein bisschen besser kennen und fragt ihn eines Tages, ob er eine Scheinehe zwecks seiner Aufenthaltsgenehmigung mit ihr eingehe wolle. Er nimmt an, bleibt aber im Laufe der Ehe weiterhin distanziert. Doch er und Omar, sein zehnjähriger Stiefsohn, kommen sich immer näher. Weitere Dinge geschehen: Kinga begeht Selbstmord und Abel nimmt aus der verlassenen Wohnung seines Nachbarn Amanita muscaria (Gewöhnlicher Fliegenpilz) ein und erlebt einen Drogenrausch, in dem er einige Erkenntnisse über sich selbst gewinnt. Nach diesem Rausch ist plötzlich seine Gabe weg: Er spricht plötzlich mit Akzent und wird nach einem halben Drink sofort betrunken. Auf dem Weg durch die Stadt wird er danach von ein paar Jungen zusammengeschlagen und stirbt fast. Durch ein dadurch ausgelöstes Hirntrauma
erleidet er eine Aphasie, also einen Verlust des Sprechvermögens. Er kann nur noch mit Anstrengung einfache Sätze der Landessprache bilden. Seitdem sagt er am liebsten „Es ist gut“.


Abel erlebt einiges in seinen Jahren in Westeuropa, z.B. eine Razzia, eine Scheinehe, viele Menschen, die ihn lieben. Aber liebt er zurück? Bemerkenswerterweise für einen Protagonisten trifft er selbst keine aktiven Entscheidungen, führt keine Gruppe an und scheint auch zu nichts eine Meinung zu haben. Er ist Kriegsdeserteur, initiiert nie selbst ein Gespräch und antwortet einsilbig auf Fragen. Und doch lieben ihn alle und helfen ihm, auch wenn er gar nicht danach fragt. Alle wollen das Geheimnis, das ihn scheinbar umhüllt, lüften. Aber dies ist wohl ein Geheimnis, was er auch vor sich selbst leugnet.
Dafür müsste er nämlich wohl erst wissen, wer er eigentlich selbst ist. Dabei kennt er nicht einmal seine eigene Nationalität. „Die Staaten, die euch festhielten mit eiserner Hand, haben euch hinausgespuckt in die Welt“ (S. 150). Ist er Kroate, Serbe, Bosnier oder doch Montenegriner? Wer kann das schon so genau sagen. Die Sprachen dieser Nationen variieren letztlich auch nur leicht.
Auch mit dem Lernen neuer Sprachen findet sich keine Erlösung, zeigt sich keine
Persönlichkeit. Abel spricht alle Sprachen akzentfrei, aber auch ohne jede persönliche Note. Wenn er sie denn einmal benutzt. Sein Nachname, Nema, bedeutet nämlich ‚der Stumme‘, denn obgleich er Sprachen beherrscht, benutzt er sie nie für ihren eigentlichen Zweck, die Kommunikation. Insgesamt eignet er sich viel an: zehn Sprachen, ein vertieftes Wissen über die Linguistik und all die Bereiche, in die sie hineingreift. Doch all das nutzte ihm nichts, die Sprache verlor er, seine Dissertation bekam auch niemand zu Gesicht. Ein weiterer Beweis für ihn als passive Person. Doch warum verhält er sich so? Hierzu möchte ich eine Textstelle zitieren, die sich auch auf der Rückseite des Buches befindet: „Jetzt und hier habe ich den
Frieden praktiziert, alle Tage, ja. Weil es möglich war. Und wenn der Preis dafür war, meine Geschichte, also meine Herkunft, also mich zu verleugnen, dann war ich mehr als bereit diesen zu zahlen. Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar. Guten und nicht so Guten gegenüber. Die Liebe war nur noch als Sehnsucht in mir. Ich hatte Glück, Fähigkeiten und Möglichkeiten, man kann nicht einmal sagen, ich hätte sie gänzlich vergeudet, trotzdem bin ich heute verloren. Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. […] Dass ich herkomme, wo ich herkomme. Dass passiert ist, was passiert ist.“ (S. 406)


Alles in allem kann ich das Buch allen ans Herz legen. Es hat einen ganz besonderen
Schreibstil, der zwar verwirren, aber auch begeistern kann. Die Abfolge der Kapitel ist nicht ganz chronologisch, weshalb ich es fast ein bisschen Schade finde, dass ich nicht genug Zeit hatte, das Buch ein zweites Mal zu lesen, um wirklich jede Kleinigkeit erfassen zu können. Als Leserin ergeht es mir fast genauso wie Abels Bekanntschaften: Man fängt an, für ihn Sympathie zu empfinden und mehr über ihn herausfinden zu wollen, auch wenn er bei weitem kein perfekter, vielleicht nicht einmal ein guter, Mensch ist. Doch genau das macht ihn wohl interessant und auch lesenswert.

Text: Talvikki Kosonen

Quellen:
Mora, Terézia. 2004. Alle Tage. München (Luchterhand Literaturverlag).

Titelbild: Photo by Clarissa Watson on Unsplash

Der Saunageist

An unserem Institut gibt es nicht nur sprachwissenschaftliche Kurse. Die Studierenden befassen sich auch mit der Kultur und Folklore der finnougrischen Völker und den wesentlichen Themen der materiellen und immateriellen Kultur. In der nächsten Zeit wollen wir euch Einblicke in dieses Themengebiet geben und bringen euch daher das wohl bekannteste Kulturgut der Finnougrier näher: die Sauna.

Der Saunageist kann unter zwei Aspekten betrachtet werden: als abstrakte Seele, die im Saunadampf sichtbar wird, eine Energie, und als konkreter haltia.

Der Saunadampf hat im Volksglauben besondere Kräfte, die gut oder böse sein können. Das finnisch-ugrische Urwort für Saunageist und Saunadampf ist lyöly, das mit dem ungarischen Wort für Dampf, lélek, dem estnischen Wort leil und dem chantischen lil in Verbindung steht. Heute gibt es wissenschaftliche Erklärungen für die guten (Stärkung des Immunsystems, porentiefe Reinigung) und bösen (Kohlenmonoxidvergiftung, Überhitzung, Dehydratation) Eigenschaften des abstrakten Saunageistes.                       

In diesem Zusammenhang kann auch das tulen väki, die Energie des Feuers, Erwähnung finden. Damit steht beispielsweise in Zusammenhang, dass Frauen nicht zu nah am Saunaofen sitzen sollten, da sie sonst unfruchtbar werden könnten, oder dass dem vihta, den schwangere Frauen oder Frauen kurz nach der Entbindung benutzt haben, magische Kräfte zugeschrieben werden.

Der konkretere haltia kann der Hausgeist (tonttu) sein, der sich einfach gerne in der Sauna aufhält, oder ein eigener Saunageist, der saunatonttu. Dieser wacht über das Feuer der Sauna und es gibt zahlreiche Sagen, in denen er den Hausherren nachts weckt, kurz bevor die Sauna in Flammen aufgeht.

Für einen tonttu (und andere haltia) wird die Sauna an bestimmten Tagen speziell geheizt, ihm steht jedoch auch stets der letzte, bzw. dritte Saunagang zu. Das bedeutet, dass die Menschen in der Regel zwei Saunagänge machen, und dann ausreichend Hitze, Wasser, Seife und einen vihta für den Geist zurücklassen, der nach Sonnenuntergang in die Sauna geht. Die Vorstellung, dass der Geist nach den Menschen sauniert, ist bei Esten, Karelieren, und Finnen (Ostbottnien) bekannt. Bei den Mari und Udmurten wird er eher als ein böser Geist angesehen, was auf den christlichen Einfluss zurückzuführen ist. Es liegen genaue Vorschriften vor, etwa, dass man die Sauna auf keinen Fall nach Sonnenuntergang betreten darf und vor 18 Uhr mit dem Baden fertig sein muss.

Im Russischen ist der bánnik/bájennik bekannt, der erst in die Sauna geht, wenn die Menschen fertig sind, es noch warm genug ist und bereits dunkel. Dies wurde von den Ingriern und Woten übernommen. Auch der russische Saunageist ist eher ein böser Geist, mit dem man sich gut stellen muss.

Unabhängig von der genauen Vorstellung des Geistes muss er beim Betreten der Sauna immer begrüßt werden und, wie bereits beschrieben, lässt man ihm Wasser, einen Birkenquast und Seife liegen.

Text: Marina Loch

Quellen:
Sarmela, Matti. 2009: Finnisch Folklore Atlas. Helsinki.
Vahros, Igor. 1966: Zur Geschichte und Folklore der Grossrussischen Sauna. Helsinki.
https://journal.fi/elore/article/view/78212/39111, zuletzt aufgerufen am 12.07.2020
Titelbild von cottonbro von Pexels

„Finno… das habe ich ja noch nie gehört!“

– „Ich studiere seit Oktober Finnougristik.“
– „Finno… das habe ich ja noch nie gehört!“
– „Finnougristik. Finnisch-Ugrische Sprachen und Kulturen.“
– „Also Finnisch?“
– „Auch. Aber da gibt es noch viel mehr…“

So oder so ähnlich könnten eure nächsten Gespräche anfangen, wenn ihr euch für ein Finnougristikstudium entscheidet. Es ist eines dieser ominösen Orchideenfächer, ein Begriff, den man schon mal gehört hat, aber von denen die meisten Menschen keines nennen können. Dabei sind es insbesondere diese kleinen Fächer, die sehr viel zu bieten haben! Glaubst du nicht? Dann lass dich vom Gegenteil überzeugen.

Eine Grundvoraussetzung, die du für ein Studium mitbringen musst, ist ein Interesse an Sprachen, denn es ist eine Sprachwissenschaft. Das bedeutet, dass du dich im Studium mit der wissenschaftlichen Erforschung von Sprachen beschäftigst – in unserem Fall sind das die der finnougrischen Sprachfamilie. Das heißt konkret, dass du zunächst die Grundlagen der sprachlichen Strukturen kennenlernen wirst, denn die unterscheiden sich vom Deutschen, Englischen oder Spanischen. Ein paar Beispiele?

  1. Ein Verb für haben gibt es nicht:
    Minulla on kissa. – Ich habe eine Katze.
    Die wörtliche Übersetzung ist aber: Bei mir (minulla) ist (on) eine Katze (kissa).
  2. Verneinen? Dazu gibt es verschiedene Lösungen und die spannendste ist vielleicht das Verneinungsverb. So kann beispielsweise die Person an diesem ausgedrückt werden. Im Wotischen sieht das so aus:
    emmä saa Wir bekommen nicht – also: Wir nicht (emmä), bekommen (saa)
  3. Besitz kann man mit den sogenannten Possessivsuffixen anzeigen. Im Ungarischen kann das so aussehen:
    macskám – meine Katze. Katze (macska), meine (-m)

Das sind doch alles eigentlich recht praktische Dinge, oder nicht? In den sprachwissenschaftlichen Kursen wirst du noch viel mehr spannende Strukturen kennenlernen – und im Sprachunterricht, denn der gehört bei uns auch dazu.

Du hast die Möglichkeit, bei Muttersprachlerinnen Finnisch und Ungarisch zu lernen. Eine dieser Sprachen wählst du im Bachelorstudium als deine Hauptsprache und kannst sie alle sechs Semester lang genießen. Unsere Kurse sind klein und das ist für dich von großem Vorteil, weil du dann viel besser und intensiver lernen wirst. Die Dozentinnen können Rücksicht auf deine Fragen und Probleme nehmen und dir Tipps geben, wie du dein Können in Sachen Wortschatz und Grammatik noch weiter verbesserst. Außerdem studierst du mit motivierten KommilitonInnen zusammen und hast sogar die Gelegenheit, im Ausland jedes Jahr Sommerkurse zu besuchen. Die gibt es übrigens auch für die kleinen Sprachen wie Udmurtisch oder Mordwinisch. Klingt komisch? Nicht wirklich, Komi ist nämlich eine eigene Sprache (oder auch zwei, denn es gibt Komi-Permjakisch und Komi-Syrjänisch) und hat somit ihren ganz eigenen Klang.

Neben Sprachen und Sprachwissenschaft sind auch kulturelle Themen bei uns ein wichtiger Bestandteil. Es gibt Kurse zur Landeskunde und Kultur Finnlands und Ungarns, damit du zum Experten für diese Länder werden kannst! In Literaturkursen lernst du dich wichtigsten Bücher und Autoren kennen und selbst die Folklore der kleinen Völker kannst du bei uns kennenlernen! Ganz nebenbei baust du auch noch Kompetenzen auf, die dir in deinem späteren Berufsleben helfen können: Schreib- und Lesekompetenz, interkulturelle Kompetenzen und ein Verständnis für große Zusammenhänge. Kurzum: Du studierst bei uns mehr als nur stumpfe Inhalte!

Hast du jetzt Interesse bekommen? Hast du noch Fragen? Dann melde dich gerne bei uns. Du kannst uns jederzeit per Mail kontaktieren oder einen der kommenden Beratungstermine (natürlich virtuell) wahrnehmen und unsere Schnupperkurse besuchen. Wie das geht? Einfach zu einem der Termine unten auf den entsprechenden Link klicken und dabei sein!

Wir freuen uns auf dich!

Studienberatung
Fr. 05.06.2020, 11:00-12:00 Uhr
Mi. 17.06.2020, 16:00-17:00 Uhr
Do. 02.07.2020, 17:30-18:30 Uhr
via Big Blue Button https://meet.gwdg.de/b/kat-97h-xc4
keine Voranmeldung nötig

Schnupperkurse
Ungarisch: Mi. 17.06.2020, 14:30-15:30 Uhr via Zoom (Voranmeldung an judit.molnar@phil.uni-goettingen.de erbeten, damit die Dozentin Material und Link zur Verfügung stellen kann)

Finnisch: Do. 02.07.2020, 16:00-17:00 Uhr via Big Blue Button (https://meet.gwdg.de/b/tii-7cu-ffj , keine Voranmeldung nötig)

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Albert Rasin – der Wissenschaftler, der für seine Sprache starb

Aus Sorge um seine Muttersprache zündete sich der udmurtische Wissenschaftler Albert Rasin im September 2019 in Ischewsk vor dem Gebäude des udmurtischen Parlaments an. Er protestierte gegen das neue Sprachgesetz Russlands, das die Position der Minderheitensprachen schwächt.

Am 10. September versammelten sich Abgeordnete und Mitglieder der Regierung zur nächsten Sitzung des udmurtischen Parlaments. Vor dem Gebäude saß ein älterer Mann. Seine Anwesenheit war nichts Aussergewöhnliches, denn viele Menschen, die den Behörden etwas mitteilen wollen, kommen vor der Sitzung hierher, weil sie hier alle wichtigen Persönlichkeiten der Politik treffen können: Abgeordnete, Minister, die Stadt- und Bezirksleitung.

Albert Rasin hielt zwei Plakate. Auf einem stand: Habe ich noch eine Heimat? Auf dem zweiten – ein Zitat des Dichters Rassul Gamsatow: Wenn meine Sprache morgen verschwindet, bin ich bereit, heute zu sterben. Rasins Begleiter verteilte ein Schreiben über die Lage der udmurtischen Sprache. Dann schaltete er seine Videokamera ein und bat Rasin, über die Aktion zu erzählen. Auf dem Video wirft Rasin der Politik vor, nichts für die Aufrechterhaltung der udmurtischen Sprache und Kultur zu tun.

Nach einiger Zeit verließ Rasin seinen Posten, fuhr nach Hause, zog sich um und kehrte dann zurück. Er nahm ein Feuerzeug und zündete sich an. Sein Begleiter versuchte, das Feuer zu löschen, aber dem Wissenschaftler kam jede Hilfe zu spät: er erlitt schwere Verbrennungen am ganzen Körper und starb wenige Stunden später im Krankenhaus.
 
Mit seiner Selbsttötung protestierte Rasin gegen das neue Sprachengesetz Russlands, das, wie er fand, die udmurtische Sprache als Sprache zweiten Ranges behandelt. Wie viele Vertreter anderer Minderheitensprachen der Russisschen Föderation fragte er sich auch, warum Kinder in der Schule Fremdsprachen lernen müssen, die eigene Muttersprache jedoch nicht. In seinem Schreiben schlug er Maßnahmen vor, die seiner Meinung nach für das Überleben der udmurtischen Sprache und des udmurtischen Volkes notwendig sind. Er plädierte dafür, das Bildungsgesetz zu ändern und die udmurtische Sprache in den Schulen verpflichtend zu unterrichten. Er hat auch gefordert, dass in Udmurtien zweisprachige Ortstafeln und Straßenschilder angebracht werden. Die Aufrechterhaltung der udmurtischen Kultur in den Dörfern war für ihn ebenfalls eine Herzensangelegenheit.

Die Meinungen zu Albert Rasins Selbsttötung sind geteilt. Einige Politiker sprechen von geplanter Provokation und sind der Meinung, Rasin habe keinen Grund für die Tat gehabt. Es gäbe doch genug Bemühungen, die Sprache zu erhalten, Rasin habe sich aber mit modernen Lösungen und Methoden nicht identifizieren können.

Zur Stellung des Udmurtischen in der Udmurtien

Eingang des Ministeriums für Sport und Tourismus der Republik Udmurtien
© Tina Fricke

Die Republik Udmurtien hat ca. 1,5 Millionen Einwohner. Die Udmurten machen 30 % der Bevölkerung aus, 60 % der Bevölkerung sind Russen. Udmurtisch wird  hauptsächlich in den Dörfern gesprochen. Die gößeren Städte – Ischewsk, Wotkinsk und Glasow – sind russischsprachig. Schülerinnen und Schüler, die die obligatorische Zentralabiturprüfung in Russisch, die auch als Aufnahmeprüfung für die Hochschulen dient, nicht ablegen, weil sie in der Schule Udmurtisch belegten, können nicht studieren. Das ist ein Grund, warum Rasins Anliegen selbst von Gleichgesinnten nicht bedingungslos unterstützt wird. Die Bildung einer nationalen Intelligenz – egal, in welcher Sprache – ist für viele wichtiger als der Erhalt der udmurtischen Sprache und Traditionen. Viele finden, dass die Vorstellung Rasins, zu den Wurzeln der udmurtischen Kultur zurückzukehren, nicht realisierbar und nicht mehr zeitgemäß ist.

Die nationale Intelligenz bemüht sich, die udmurtische Sprache im modernen städtischen Leben zu etablieren. Viele erinnern sich noch an die Gesangsgruppe Buranowskije Babuschki, die Russland beim Eurovision Song Contest 2012 in Baku vertreten und dort den zweiten Platz belegt hat. Die Gruppe singt auch udmurtischsprachige Lieder und dient als Vorbild für Rock- und Popbands, die ebenfalls auf Udmurtisch singen. Es gibt udmurtische Bücher, Filme, Webseiten und Blogs, Designer entwerfen Kleidung nach alten udmurtischen Mustern. All diese Bemühungen konnten Albert Rasin nicht überzeugen.

Änderungen im Sprachengesetz der Russischen Föderation

Seit dem Sommer 2018 lernen Schulkinder in den Nationalrepubliken Russlands nicht mehr verpflichtend die Sprache der dortigen Titularnation. Sie, bzw. ihre Eltern müssen sich vor dem Eintritt in die erste, bzw. fünfte Klasse für eine „Muttersprache“ entscheiden. Das kann auch Russisch sein, welches ohnehin ein Pflichtfach ist. Alternativ kann eine nichtrussische Muttersprache erlernt werden. Bei einer Entscheidung für Russisch wird die Stundenzahl im Fach Russisch erhöht. Was die Sprachen der Titularnationen betrifft, ist zu befürchten, dass ethnisch russische Schülerinnen und Schüler diese viel weniger lernen werden als bisher. Weil das Prestige des Russischen unvergleichbar höher ist als das der Minderheitensprachen, besteht die Gefahr, dass sich Verterterinnen und Vertreter dieser Minderheiten ebenfalls für das Russische entscheiden werden.

Quellen:
https://www.bbc.com/russian/features-49745671
http://duma.gov.ru/news/27720
/
https://udmpravda.ru/tag/albert-razin/ 

Bilderrechte: © Tina Fricke



Wissenschaftler stirbt für die Muttersprache

Am 10. September 2019 zündete sich der 79 Jahre alte udmurtische Wissenschaftler Albert Rasin vor dem Gebäude des Udmurtischen Parlaments in Ischewsk an, um so gegen die Sprachpolitik der Russischen Föderation zu protestieren. Er hielt zwei Plakate mit den Worten Wenn morgen meine Sprache verschwindet, bin ich bereit, heute zu sterben und Habe ich noch eine Heimat? in der Hand. Neben ihm standen ein weiterer Aktivist und ein Fotograf, die das Geschehen fotografieren und in den sozialen Netzwerken verbreiten sollten. Zuvor drückten sie den Volksvertretern Flugblätter mit folgender Überschrift in die Hand: Das udmurtische Volk verschwindet. Es ist Ihre Pflicht, es zu retten. Die Sitzung wurde unterbrochen. Albert Rasin starb wenige Stunden später im Krankenhaus.

Rasin war Aktivist der udmurtischen Nationalbewegung Udmurt Keneš und gehörte zu den vierzehn Unterzeichnern des offenen Briefes vom 14. Juni 2018, in dem der Präsident und die Abgeordneten des Udmurtischen Parlaments aufgefordert wurden, das neue Sprachgesetz der Russischen Föderation nicht zu unterstützen.

Das neue Sprachgesetz schwächt deutlich den Status der Minderheitensprachen im polyethnischen Russland: früher war der Unterricht der Minoritätssprachen in den Schulen der Titularrepubliken – d.h. in den Teilrepubliken mit einer kulturell eigenständigen einheimischen Bevölkerung – Pflicht. Nun sollen sie auf freiwilliger Basis unterrichtet werden und sind nicht mehr Teil des Lehrplans. Dies ist ein weiterer Schritt auf dem Weg der Russifizierung der Minderheiten.

Warum müssen Minderheitensprachen wie das Udmurtische in den Schulen unterrichtet werden? Reicht es nicht, wenn die Kinder zu Hause mit ihren Eltern udmurtisch sprechen? Nein. Über bestimmte Themen spricht man zu Hause gar nicht. Fehlt der breite Wortschatz zu allen Themenbereichen des Lebens, müssen die Sprecher immer wieder die Sprache wechseln, bis nur noch russisch gesprochen wird.

Die eigene Sprache ist wichtig für die nationale Identifikation ethnischer Gemeinschaften und einzelner Personen. Wem seine Muttersprache genommen wird, verliert auch einen Teil seiner Identität.

Udmurtien und die Udmurten

Die Republik Udmurtien liegt im europäischen Teil Russlands, westlich des Uralgebirges. Die Hauptstadt der Republik ist Ischewsk. Die Udmurten sind ein finnisch-ugrisches Volk, das aber in seiner Heimatrepublik nur noch eine Minderheit ist. Die Amtsprachen der Republik Udmurtien sind Udmurtisch und Russisch.

2019 – Jahr der indigenen Sprachen

Um auf die Gefährdung indigener Sprachen aufmerksam zu machen, haben die Vereinten Nationen 2019 zum »Internationalen Jahr der indigenen Sprachen« erklärt. Das Jahr soll zeigen, wie wichtig der Schutz, die Wiederbelebung und Förderung dieser Sprachen für eine nachhaltige Entwicklung sind.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.

Quellen:

https://dgvn.de/meldung/2019-internationales-jahr-der-indigenen-sprachen/
https://www.hs.fi/ulkomaat/art-2000006233904.html?fbclid=IwAR1iwNzRJUTRfbNDAUmpAPGX5bkpSvjqWc2roHDRqu1KWIie-AIs-lcoNq8
https://www.idelreal.org/a/30156700.html?fbclid=IwAR069IX1qKx-YhmWVlbUYgptouuSfa07qmQ0TWO3ZMdR_9w24CtqmPobfYg
https://www.idelreal.org/a/30156215.html?fbclid=IwAR1F1Zme8TYGQdoWTeAlzwwQQNfAgqxpT0TJ4O4HbsjyU_wMrEpE
http://izhlife.ru/incidents/89625-svidetel-sobytiy-u-gossoveta-udmurtii-v-slovah-razina-chuvstvovalos-volnenie.html
https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%A0%D0%B0%D0%B7%D0%B8%D0%BD,_%D0%90%D0%BB%D1%8C%D0%B1%D0%B5%D1%80%D1%82_%D0%90%D0%BB%D0%B5%D0%BA%D1%81%D0%B5%D0%B5%D0%B2%D0%B8%D1%87

Du studierst Finnowas?!

“Du studierst Finnowas?!”

So oder so ähnlich lautet meist die erste Frage, die man beantworten muss, wenn man als Studierender der Finnougristik anderen Menschen von seinem Studienfach erzählt. Die wenigsten können mit dem Begriff etwas anfangen und sind meist sehr überrascht, wenn sie hören, dass es so etwas gibt wie eine finnisch-ugrische Sprachfamilie und dass Finnisch und Ungarisch miteinander verwandt sind. Dies und noch weitaus mehr lernt man, wenn man sich für ein Studium der Finnougristik (oder auch: Finnisch-Ugrische Philologie) entscheidet.

Bei uns in Göttingen gibt es zwei wesentliche Studienbestandteile, die Sprachwissenschaft und die Sprachlehre. Man lernt also nicht nur einige der Sprachen, sondern beschäftigt sich auch damit, was diese Sprachen ausmacht und warum sie miteinander verwandt sind. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sprachen werden analysiert und man studiert die historische Entwicklung, nur um einige Beispiele zu nennen. Natürlich gibt es in der Sprachwissenschaft noch viele weitere Bereiche, die auch für ein Studium unseres Faches eine Rolle spielen und die man im Laufe des Studiums kennenlernen wird.

Finnisch-ugrische Sprachen gibt es insgesamt 15, auf die sich ca. 22 Millionen Muttersprachler verteilen. Die bekanntesten dieser Sprachen sind Finnisch, Estnisch und Ungarisch. Finnisch und Ungarisch kann man an unserem Seminar als Schwerpunkt studieren. Aus den beiden “großen” Sprachen wählt jeder Studierende zu Anfang seine Wunschsprache als Erstsprache aus – aber keine Sorge! Auf die andere Sprache muss man keineswegs verzichten, denn man belegt während des Bachelor-Studiums auch einen Anfängerkurs in der Zweitsprache. In diesem erlernt man die wichtigsten Grundlagen und Strukturen.

Ein paar weniger bekannte Sprachen, die ebenfalls zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie gehören, sind beispielsweise Wotisch, Ingrisch, Udmurtisch, Mordwinisch oder auch Mansi. Die Namen mögen am Anfang vielleicht noch etwas seltsam klingen, aber spätestens nach zwei Semestern sind sie etwas, was jedem leicht über die Lippen gehen wird.

Dass die Finnen in Finnland, die Esten in Estland und die Ungarn in Ungarn leben, ist natürlich keine große Überraschung, doch wo leben die Völker der anderen 12 Sprachen?
Sie verteilen sich auf ein sehr großes Gebiet, das von Skandinavien über das Baltikum bis nach Sibirien reicht. So gibt es beispielsweise die Sami in Norwegen, Schweden, Finnland und auf der Kola-Halbinsel, die Liven lebten im heutigen Lettland und die meisten finnougrischen Völker haben ihre Heimat auf russischem Staatsgebiet.

Wer sich für ein Finnougristik-Studium entscheidet, hat es also mit einer Vielzahl an interessanten Sprachen und Kulturen zu tun und lernt, wie Sprachwissenschaft funktioniert. Seiner Familie und seinen Freunden hat man immer wieder etwas Spannendes zu erzählen, denn man lernt jede Woche neue Dinge, die man vorher noch nicht über die Finnougrier und ihre Sprachen wusste.

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Ostern in Ungarn

Fleisch nehmen, Frauen begießen, Ostereier verteilen

Húsvét ‚Fleisch nehmen‘ heißt in Ungarn das Fest zu Auferstehung Christi. Am Ostersonntag gehen die Gläubigen mit Körben voller Lammfleisch, Schinken, Osterbrot, Eier und Wein in die Kirche, um die Speisen dort vom Priester segnen zu lassen. Die gesegneten Speisen werden anschließend im Familienkreis verspeist. Nach der vierzigtägigen Fastenzeit bereiten auch die Nichtkatholiken ein großes Frühstücksbuffet mit Schinken, Osterbrot, Paprika, Radieschen, Tomaten, Frühlingszwiebeln, Kuchen und Eiern vor. Der Schnaps darf natürlich auch nicht fehlen.

Vorher werden die Eier gefärbt und mit schönen Mustern versehen. Es wird z. B. flüssiges Wachs mit einem Gänsefederkiel auf das Ei aufgetragen, so dass es an dieser Stelle beim Färben keine Farbe annimmt.

Am Ostermontag findet das größte und spannendste weltliche Ereignis des Osterfests, das „Ostergießen“ (ung. húsvéti locsolkodás), statt. Die Frauen bleiben an diesem Tag zu Hause und warten auf die Männer, die in Gruppen von Haus zu Haus ziehen und nach den Frauen suchen, um sie dann mit einem Eimer Wasser – heutzutage eher mit Kölnischwasser oder Sodawasser – zu begießen, damit sie nicht „verwelken“. Vorher aber müssen sie ein kleines Gedicht aufsagen und die Frauen um Erlaubnis bitten.

Zöld erdőben jártam,
Kék ibolyát láttam,
El akart hervadni.
Szabad-e locsolni?

Ich ging in den grünen Wald,
Ich sah ein blaues Veilchen,
Es wollte verwelken.
Darf ich es gießen?

Zum Dank werden die Männer von den Frauen mit Schinken, Osterbrot, gekochten Eiern, Kuchen und Schnaps bewirtet und bekommen ein gefärbtes Ei geschenkt. Für Kinder gibt es Schokoladeneier oder -hasen und von den Verwandten auch etwas Geld.

Der Ursprung dieses Osterbrauchs ist nicht ganz klar. Einerseits wird er auf ein heidnisches Fruchtbarkeitsritual zurückgeführt. Das Begießen mit frischem Wasser war eine symbolische Reinigung zum Frühlingsbeginn. Anderseits war es auch ein Spiel der Geschlechter: das Mädchen, das trocken blieb, würde in diesem Jahr nicht mehr heiraten. Andere Deutungen dieser Tradition stehen mit der christlichen Taufe in Verbindung.

Osterschinken-Rezept

Den rohen Schinken gut abwaschen und für einige Stunden in reichlich kaltes Wasser legen. Dann mit viel kaltem Wasser aufsetzen, langsam zum Kochen bringen und solange köcheln lassen, bis man mit einem Messer leicht in die Schwarte stechen kann. Es empfiehlt sich, das Kochwasser mindestens einmal zu tauschen. Anschließend den Schinken im Kochwasser abkühlen lassen. Dazu Weissbrot, Meerrettich und in der Schinkenbrühe gekochte Eier servien.

Quellen:
https://www.arcanum.hu/en/online-kiadvanyok/Lexikonok-magyar-neprajzi-lexikon-71DCC/h-7297A/husveti-locsolas-72BC2/
http://debrecen.imami.hu/husvet/mi-husvet-szokasok-hagyomanyok-es-eredetuk
http://mek.oszk.hu/02100/02115/html/2-1455.html


Busójárás in Mohács

Jedes Jahr in der Faschingszeit findet in der südungarischen Stadt Mohács nahe der kroatischen Grenze das größte Faschingsfest Ungarns, der Umzug der Busó (ung. busójárás), statt. Seine Tradition geht auf die südslawische Bevölkerungsgruppe der Schokatzen (kroatisch šokci, ung. sokácok) zurück, die in Kroatien, Serbien, Rumänien und Ungarn beheimatet ist. Das Spektakel dauert sechs Tage und gehört seit 2009 zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO.

Das Wort Busó ist südslawischer Herkunft. Die Busó sind furchterregende Männer, die zottelige Schafspelze, mit Stroh ausgestopfte Hosen und gehörnte Holzmasken tragen. Während des Festes dürfen sie tun und lassen, was sie wollen. Alles ist erlaubt. Ihre Identität decken sie niemals auf.


“Am Schweif des Faschings” (von Faschingssonntag bis Dienstag) ziehen die Busó umher, um mit Viehglocken, Knarren und Gestampfe den Winter zu vertreiben. Sie versammeln sich in Kismohács auf der anderen Seite der Donau und setzen dann mit Booten ans Festland über. Dort angekommen, ziehen sie zu Fuß und mit Pferdekutschen weiter. Begleitet werden sie von in Lumpen verkleideten Männern und Kindern (Jankele) und von Schaulustigen, die in diesen Tagen zu tausenden in die Stadt strömen. Die Busó machen Lärm, erschrecken die Menschen.

Eine Gesandtschaft aus 100 Busó zieht vor das Rathaus, wo sie vom Bürgermeister mit Schnaps und Wein bewirtet werden. Es beginnt die Herrschaft der Busó: Sie tanzen, umarmen die Frauen und scherzen mit ihnen. In der Stadt ist es laut: überall wird musiziert, Kanonen werden angezündet. Die tapfersten Busó werden von einem Pferd auf dem Teufelsrad sitzend oder stehend durch die Straßen der Stadt gezogen: das Teufelsrad ist ein Holzrad, das auf einer langen Stange waagerecht fixiert ist und während der Fahrt auf der Straße kippelt.

Abends wird ein riesiger Scheiterhaufen entzündet und von den Busó umtanzt. Ein Sarg, der den Winter symbolisiert, wird auf den Scheiterhaufen geworfen und verbrannt.

Woher kommt dieses Fest?


Es gibt zwei Theorien zur Entstehung der Busójárás. Der Legende zufolge sollen die Busó die Türken in Angst und Schrecken versetzt und vertrieben haben. Nach der Schlacht bei Mohács (1526) besetzten die Türken große Gebiete Ungarns, vertrieben oder versklavten die Einwohner. Immer mehr Ungarn versteckten sich im Sumpfgebiet an der Donau. Die Türken trauten sich nicht, dieses Gebiet zu betreten. Viele ihrer Soldaten kamen hier ums Leben. Die hier lebenden Ungarn wurden aber immer mutiger: sie konnten sich hier tagsüber frei bewegen, abends haben sie sich am Feuer gewärmt.

Eines Abends, als die Ungarn beim Feuer saßen, erschien ein alter Schokatze und sagte den Ungarn, dass sie die Hoffnung nicht verlieren sollen, denn die Befreiung werde bald kommen. Sie sollten Waffen und furchteinflößende Masken aus Holz schnitzen und solange warten, bis eine stürmische Nacht komme und mit ihr ein goldbekleideter, maskierter Reiter, um sie dann in den Kampf gegen die Osmanen zu führen.


Am nächsten Tag fingen die Menschen mit den Vorbereitungen an: sie fertigten Gewehre, Masken, Kleidung und warteten auf den Reiter.

Einmal während eines Gewitters erschien tatsächlich ein stolzer, junger Reiter und winkte, ohne ein Wort zu sagen, den Männern zu. Die Mohácser standen auf, um dem Reiter zu folgen. Die Türken, die in ihren Häusern schliefen, wurden von einem fürchterlichen Lärm geweckt und als sie zum Fenster hinausschauten, sahen sie viele maskierte Männer, die sie für Dämonen hielten. Die Osmanen ergriffen die Flucht und verließen Mohács Hals über Kopf.


Das ist zwar eine sehr interessante Geschichte, aber die zweite Theorie ist wahrscheinlicher. Der Maskenkarneval dient der Vertreibung des Winters und die Busójárás gilt als ein altes Fruchtbarkeitsritual südslawischen Ursprungs. Kroatische Siedler, die nach der Vertreibung der Türken ins Land gezogen sind, sollen die Tradition mitgebracht haben. Zum ersten Mal wurde das Fest im 18. Jh. erwähnt, seinen endgültigen Charakter entfaltete es im Lauf der Jahrhunderte im Zusammenleben von Ungarn und Südslawen. Die Gestaltung der Kostüme und Masken ist seit Jahrhunderten unverändert erhalten geblieben.


Quellen:

www.mohacs.hu/info/buschofest

www.mohacsibusojaras.hu