Finnougristik – ein untypisches Praktikum

Liv Kallender, Schülerin am Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, war im März 2023 während der Semesterferien für ein zweiwöchiges Schnupperpraktikum an unserem Seminar. In ihrem Bericht schreibt sie über ihre Erfahrungen als Praktikantin.

Ich wurde vor meinem Praktikum tatsächlich öfter auf dieses angesprochen und gefragt, was ich dort an der Göttinger Universität machen würde und was Finnougristik überhaupt sei. Tatsächlich wusste ich dies im Voraus selber nicht so genau, die Wahl meines Praktikums fiel eher spontan aus und die Thematik des Seminars kannte ich selbst, um ehrlich zu sein, auch nicht. Doch die „Stellenanzeige“ für ein Schüler*innenpraktikum am Finnisch-Ugrischen Seminar weckte mein Interesse und nachdem ich mich erkundigt hatte, entschied ich mich, dort mein Berufspraktikum zu absolvieren. Denn die Finnougristik und die genannten Tätigkeitsfelder während des Praktikums nannten Aspekte, die mich sehr interessierten.

Tätigkeitsbereiche

Genau diese Aspekte – das Verfassen von Blogbeiträgen, Erforschung fremder Kulturen, Sprachen und Literaturen und das Arbeiten an Universitäten – wurden dann auch während meines Praktikums aufgegriffen. Schon von Beginn an, ab meiner Einführung in das Seminar und meiner ersten Aufgabe, dem Verfassen eines Blogbeitrags zu Minna Canth, bereitete mir die Arbeit am Seminar viel Spaß. Ich widmete mich anfangs dem Studierendenblog und verfasste nach dem Beitrag zu Minna Canth zwei Beiträge zu Sándor Petőfi, einem ungarischen Dichter. Auch die dazugehörigen Recherchen sind höchst interessant für mich gewesen. Ab der Mitte der ersten Woche beschäftigte ich mich mit der Thematik des Seminars und dessen Vorbereitungen des Unterrichts und legte dabei ein besonderes Augenmerk auf das Volk der Udmurten. Die kommenden Tage vervollständigte ich meine Notizen zu diesem Thema, legte passende PowerPoint-Folien an und arbeitete nebenbei an einem Blogbeitrag zur Parlamentswahl in Finnland. In den letzten Tagen meines Praktikums widmete ich mich meinem selbst ausgesuchten Themenfeld, den Frauenrechten in Ungarn. Hierzu recherchierte ich und verfasste zu den Rechten der Frau und zu Homosexualität in Ungarn drei Blogbeiträge, die nach meinem Praktikum publiziert wurden. Allgemein kann ich sagen, dass meine Tätigkeiten sehr interessant waren und mir viel Spaß bereitet haben. Auch diese jetzt im Nachhinein anhand von öffentlichen Beiträgen zu sehen, ist eine super schöne Erfahrung und Erinnerung an diese.

Erwartungen

Meine Erwartungen, die eigentlich nur daraus bestanden, die Zeit zu genießen, die Thematik besser kennenzulernen und Spaß bei den bevorstehenden Arbeiten zu haben, wurden übertroffen. Außerdem lernte ich während meiner Zeit am Seminar wichtige Sachen, die mir in Zukunft, vor allem im Schul- und Berufsleben, weiterhelfen werden, das wissenschaftliche Arbeiten ist hierbei mein wichtigster Aspekt.

Wie man bereits merkt, war das Praktikum eine sinnvolle Erfahrung für mich, die in positiver Erinnerung bleiben wird, auch auf meinen Berufs- beziehungsweise Studiumswunsch gesehen. Den Praktikumsplatz kann ich nur jeder Person mit ähnlichen Interessen weiterempfehlen, aber auch Schüler*innen, die mal an eine Universität wollen oder auch einfach mal etwas Neues kennenlernen möchten. Hierbei möchte ich vor allem die Mitarbeiterinnen des Seminars herausheben, die nicht nur sehr sympathisch sind, sondern auch immer ein offenes Ohr für Fragen hatten und somit immer Hilfe geleistet haben. Es war sehr schön, mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Zusammengefasst bin ich sehr dankbar für meine positiven Erfahrungen, die Menschen, die mich am Seminar während der Zeit begleitet haben und auch für alles, was ich dazugelernt habe.

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach

Bist auch du an einem Praktikum bei uns interessiert? Du kannst dich jederzeit dafür bewerben. Eine Ausschreibung mit den wichtigsten Informationen findest du auf unserer Homepage.

Titelbild: Brooke Cagle auf Unsplash

Homosexualität und Transsexualität in Ungarn

2021 wurde die Position der ungarischen Regierung gegenüber Homosexualität durch die Fußball-EM im Land und die damaligen Debatten um beispielsweise die One-love-Binde zum ersten Mal auch in Deutschland stark diskutiert. Dank der großen Reichweite des Fußballsports und den dazugehörigen Turnieren erreichten die Debatten um die Auslebung und den rechtlichen Rahmen der Homosexualität in Ungarn eine große Bevölkerungsmenge.

Obwohl die EM und somit auch die Diskussionen über Verbote von gewissen bunten Flaggen vorüber ging, blieb die Kritik an Ungarns Umgang mit Homosexualität und Akzeptanz gegenüber Menschen, deren Sexualität oder Identität von der “Norm” abweichen. Durch weitere gesetzliche Einschränkungen in den letzten Jahren wurde die Kritik immer lauter und die Debatten zahlreicher.

In den vergangenen Jahren lässt sich bei der ungarischen Regierung eine klare Geschlechterideologie, die ein binäres Verständnis enthält, erkennen. Das Geschlechterkonzept richtet sich gegen die LGBTQ*-Rechte und somit auch gegen die Menschenrechte allgemein, denn diese gelten für alle Menschen unabhängig von Sexualität, Identität etc. Die Menschenrechte garantiert auch das ungarische Grundgesetz.

Im Jahr 2018 wurde in Ungarn der von der ELTE und der CEU angebotene Masterstudiengang Gender-Studies/Geschlechterforschung verboten und aus dem Studienangebot gestrichen, trotz guter Einschreibquoten und internationaler Reputation. Der Studiengang untersucht Geschlechterverhältnisse, baut Kompetenzen für diesen Fachbereich auf und fördert Diversität, die der Weltanschauung der Regierung nicht entspricht.

Die Argumente für die Streichung des Studienfachs sind schwach. Die Steuerzahler würden so entlastet werden – obwohl die CEU eine Privatuniversität ist/war – und es gäbe keine Verwendung von Absolvierenden auf dem Arbeitsmarkt. Die Regierung argumentierte außerdem, dass der Studiengang nicht den christlichen Werten entsprechen würde, obwohl er in anderen Ländern Europas auch von kirchlichen Hochschulen angeboten wird. Der Verbot des Faches ist ein klarer Verstoß gegen die Bildungsfreiheit und beispielloser Angriff auf die Demokratie und Wissenschaftsfreiheit.
Die Abschaffung der Geschlechterforschung löste eine hitzige Debatte in Ungarn aus, das Wort Gender wurde ein “Unwort”.

Vor fast drei Jahren erregte ein neues Gesetz erneut Aufruhr. Im Mai 2020 stimmte das ungarische Parlament für ein Gesetz, dessen § 33 das Geburtsgeschlecht im Geburtsregister und in allen anderen amtlichen Dokumenten – Personalausweisen, Führerscheinen etc. – unveränderbar macht. Zuvor war es für trans- und intersexuelle Menschen möglich, ihr Geschlecht oder ihren Namen in ihren offiziellen Dokumenten ändern zu lassen. In diesem Paragraph wurde ein Verbot der Änderung des Geburtsgeschlechts auch für die Personen ausgesprochen, die bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes eine Änderung des Geschlechts und des Namens beantragt hatten. Dies verletzt die Rechte von trans- und intersexuellen Personen und allgemein folgt daraus die Verletzung des Menschenrechts auf Privatsphäre der Betroffenen. Die Menschenwürde wird hierbei nicht geschützt, die Betroffenen werden Diskriminierung ausgesetzt.

Im Frühjahr 2021 entschied das Verfassungsgericht, dass ein rückwirkendes Verbot der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts von Transgender-Personen gegen das Grundgesetz verstößt. Noch im selben Jahr stellte das Verfassungsgericht fest, dass seine frühere Entscheidung für alle Fälle gilt, die vor dem Inkrafttreten von Artikel 33 eingeleitet wurden. Wer also vor Mai 2020 eine Geschlechts- und Namensänderung in seinen amtlichen Dokumentem beantragt hatte, hat das Recht, seinen Fall von den Behörden bearbeiten zu lassen, denn jeder Mensch hat ein Recht auf einen eigenen Namen, der seine Identität zum Ausdruck bringt – dies hatte das Verfassungsgericht bereits im Jahr 2018 erklärt.

Entgegen ihrer rechtlichen Anerkennung ist die Durchführung von geschlechtsbestätigenden Eingriffen nicht verboten, obwohl sie in der Praxis seit der Verabschiedung von Artikel 33 sehr viel schwieriger geworden ist. In den geltenden Rechtsvorschriften ist nicht geregelt, wer und unter welchen Bedingungen geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe vornehmen lassen kann.

“Schutz der Kinder”

2021 sorgte die Frage der Aufklärung von Kindern zum Thema Homosexualität und Transsexualität für einen landesweiten Skandal. Mehrere Gesetze wurden novelliert. Das Anti-Pädophilie-Gesetz setzt die Frage der Geschlechtsidentität mit Pädophilie gleich. Auch das Mediengesetz und das Werbegesetz wurden novelliert. Der Grundgedanke der Novellierungen ist, dass die Darstellung der von dem Geburtsgeschlecht abweichenden Selbstidentität, der Änderung des Geschlechts und der Homosexualität geeignet ist, die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung von Minderjährigen zu beeinträchtigen. Inhalte, in denen Homosexualität und sexuelle Minderheiten dargestellt werden, dürfen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nicht gezeigt werden. Dementsprechend dürfen sie im Fernsehen erst nach 22.00 Uhr und im Radio nach 23.00 Uhr ausgestrahlt werden. Fernsehwerbung und auch andere Programme müssen in die im Mediengesetz festgelegten Alterskategorien eingeteilt werden. Entsprechend dieser Einteilung muss während der gesamten Werbung ein deutlich sichtbares Piktogramm in einer Ecke des Bildschirms eingeblendet werden. In Anzeigen von öffentlichem Interesse und sozialer Werbung dürfen sexuelle Minderheiten gar nicht dargestellt werden.

Das gilt nicht nur für Szenen, die offenkundige Sexualität enthalten, sondern für alle Inhalte, die Homosexualität darstellen. Der Gesetzgeber misst also mit zweierlei Maß zwischen der Darstellung von heterosexuellen und homosexuellen Inhalten.

Zum Schluss stellt sich die Frage, welche Rechte Homosexuelle in Ungarn haben. Im Grundgesetz ist festgelegt, dass die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden kann. Homosexuelle Paare dürfen seit Dezember 2020 keine Kinder adoptieren, Frauen, die in eingetragenen Partnerschaften leben, können keine künstliche Befruchtung in Anspruch nehmen. Schwule und bisexuelle Männer dürfen seit dem 1. Januar 2020 Blut spenden. Gleichgeschlechtliche Eltern haben ein Recht auf Elterngeld.

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Ungarn#:~:text=Ungarn%20gilt%20beim%20Thema%20Homosexualit%C3%A4t,mit%20homosexuellen%20Inhalten%20sind%20verboten
https://www.amnesty.org/en/documents/eur27/2085/2020/en/
https://hatter.hu/tevekenysegunk/jogsegelyszolgalat/jogi-gyorstalpalo/gyermekvallalas https://hatter.hu/tevekenysegunk/jogsegelyszolgalat/jogi-gyorstalpalo/nemvaltas-tranzicio
https://hatter.hu/tevekenysegunk/jogsegelyszolgalat/jogi-gyorstalpalo/partnerkapcsolat https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/ostblogger/verbot-ungarn-gender-studies-100.html
https://net.jogtar.hu/jogszabaly?docid=a1100425.at
https://net.jogtar.hu/jogszabaly?docid=A2100079.TV&timeshift=20220201&txtreferer=00000003.txt
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/ungarn-schafft-das-fach-gender-studies-ab-a-1233500.html https://mkogy.jogtar.hu/jogszabaly?docid=A2100079.TV
https://www.szalailegal.hu/a-reklamok-kotelezo-korhatarbesorolasa-es-a-reklamkorlatozasok-modosulasa/

Titelbild: Anastasiia Chepinska auf Unsplash
Bild “Love is love”: Chris Briggs auf Unsplash


Text: Liv Kallender, Praktikantin, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach
Ergänzungen: JMolnár

Aktuelle Lage der Frauen in Ungarn

Auch im 21. Jahrhundert werden regelmäßig die weltweiten Rechte der Frau und Verstöße gegen diese diskutiert und auf sie aufmerksam gemacht. Ungarn stand in den letzten Jahren ebenfalls vermehrt auf Grund von sowohl offizieller Diskriminierung z. B. in Form von Gesetzen, als auch wegen inoffizieller Benachteiligungen von Frauen z. B. am Arbeitsplatz in Kritik. Doch sollte Ungarn als Mitglied der EU die rechtlichen Maßnahmen für die Gleichstellung nicht genauso umsetzen wie die anderen Staaten auch?

In Ungarn gelten laut dem Grundgesetz aus formaler Sicht die gleichen Rechte für Männer und Frauen. Doch wie bereits im letzten Blogbeitrag (LINK) erwähnt wurde, macht das Land seit Orbáns Politik mit seiner Fidesz-Regierung auf Grund von konservativen Wertevorherstellungen sogar Schritte, die im Bezug auf die Entwicklung der Frauenrechte als Rückschritte gehandelt werden können.

Durch verschiedene Eingriffe in Gesetze oder Kritik an vorhandener Gleichberechtigung der Frauen sowie interne Berichte von Betroffenen erweckte Ungarn die Aufmerksamkeit einiger Organisationen und auch die der gesamten Bevölkerung. In den letzten Jahren ließen sich an diversen Beispielen die Unterdrückung und die Einschränkungen der Frauen in Ungarn erkennen.

Im Bezug auf höhere Bildung sind in Ungarn die Frauen stärker als die Männer vertreten, der Anteil der Frauen an Hochschulen liegt bei ca. 54,55%. Somit sind Frauen in diesem Bereich etwas besser gebildet als Männer.

Doch genau diese “Überlegenheit” der Frauen im Bereich der Bildung oder auch Pink Education, wie sie genannt wurde (allein der Name vertritt ein sexistisches Klischee), wurde von dem ungarischen Rechnungshof im vergangenen Jahr scharf kritisiert. Denn aus dieser Situation könnten sich demografische Probleme bilden, gebildete Frauen hätten es schwerer, gleichgebildete Partner zu finden und wären kritischer bei der Partnerwahl, daraus resultiere eine erschwerte Gründung der Familien und dies würde die Geburtenrate gefährden, die bekanntlich ein wichtiger Kernbestandteil der Fidesz-Politik ist.

Der Rechnungshof befürchtet außerdem eine Benachteiligung der Männer im Bildungsbereich, die Frauen behinderten die Männer oder besser gesagt ihre Bildung. Als weitere Konsequenz könnten Männer psychische Probleme bekommen, natürlich auf Grund ihrer Benachteiligung.

Im Karriereverlauf haben Frauen allerdings schlechtere Chancen auf gute Positionen und sind somit wieder benachteiligt, dies wirft natürlich Fragen auf, wenn man die statistisch bessere Bildung der Frauen betrachtet. In Ungarn werden deutlich mehr Führungspositionen von Männern besetzt und auch bei dem Gehalt erkennt man keine Gleichberechtigung, die sogenannte GenderPayGap zeigt sich auch in Ungarn beständig. Zusätzlich sind Frauen in der Realität oftmals geschlechterspezifischer Diskriminierung am Arbeitsplatz und Arbeitsmarkt ausgesetzt, schwangere Frauen und Frauen, die nach der Geburt wieder arbeiten möchten, sind hiervon besonders betroffen.

“Magyarországon úgy diszkriminálják a nőket, hogy ők még csak észre sem veszik”, in die deutsche Sprache übersetzt bedeutet dies soviel wie “Frauen werden in Ungarn diskriminiert, ohne es zu merken”. Dieses Phänomen beschreibt die Wissenschaftsjournalistin Zsuzsanna Bal´azs in einem Artikel des Wissenschaftsmagazins Qubit. in 2018. Durch die sturen Geschlechterrollen nehmen die Frauen ihre Benachteiligung oftmals nicht wahr.

Eine weitere Einschränkung erhielten die ungarischen Frauen im letzten Jahr, als das Abtreibungsrecht von der Regierung deutlich verschärft wurde. Schwangere Frauen, die eine Abtreibung möchten oder diese in Betracht ziehen, sind seit dem 25. September 2022 nicht nur zu zwei Beratungsgesprächen verpflichtet, sondern benötigen auch eine ärztliche Bescheinigung, die bestätigt, dass sie ein Lebenszeichen von ihrem Embryo gehört haben (gemeint ist damit üblicherweise der Herzschlag des Fötus). Für Kritiker*innen verstärkt das neue Gesetz den Druck, der auf die betroffenen Frauen ausgeübt wird, zusätzlich werden diese nochmal mehr gedemütigt als vorher.

2020 weigerte sich die ungarische Regierung, die Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützt, zu ratifizieren und das, obwohl Ungarn die Konvention 2014 unterschrieben hatte. Die Gründe für diese Blockierung erklärte Viktor Orbán selbst: seiner Meinung nach unterstütze das Übereinkommen eine “Gender-Ideologie” und würde “illegale Migration” fördern.

Durch das Verbot der GenderStudies, das 2018 in Ungarn in Kraft trat, wurde schon vor fünf Jahren nicht nur die Aufklärung zu den Geschlechterverhältnissen zwischen Mann und Frau deutlich gebremst, sondern auch allgemein massiv in die Wissenschaftsfreiheit eingegriffen und gegen EU-Recht verstoßen.

Die Gleichstellungssituation in Ungarn wird nicht erst seit einigen Monaten diskutiert, bereits 2019 bemängelte der Menschenrechtskomissar des Europarats, nach einem Besuch im Land erkennbare Rückschritte bei den Frauenrechten und bei der Gleichstellung der Geschlechter.

Quellen:
Balázs, Zsuzsanna. Magyarországon úgy diszkriminálják a nőket, hogy ők még csak észre sem veszik. 2018. Qubit. https://qubit.hu/2018/05/18/magyarorszagon-ugy-diszkriminaljak-a-noket-hogy-ok-azt-meg-csak-eszre-sem-veszik
Bögre, Zsuzsanna. Frauen in Ungarn. OWEP 2/2002. 2022. https://www.owep.de/artikel/296-frauen-in-ungarn
Veyder-Malberg, Thyra. Emanzipation Adé, Testlabor Ungarn: Frauen zurück an den Herd!. 2022. mdr.de
https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ungarn-abtreibung-gender-emanzipation-frauenrechte-gleichstellung-100.html
https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/ungarn-2020
https://www.amnesty.org/en/documents/eur27/2378/2020/en/
https://www.amnesty.org/en/documents/eur27/2085/2020/en/
https://www.sueddeutsche.de/politik/ungarn-viktor-orban-universitaeten-1.5645752
https://www.spiegel.de/panorama/bildung/ungarn-rechnungshof-beklagt-hohen-frauenanteil-an-unis-a-c5dcde17-04ad-479e-8af8-e2ed635b7f7a?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ungarn-abtreibungen-101.html

Titelbild: Mika Baumeister auf Unsplash

Text: Liv Kallender, Praktikantin, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach

Frauenrechte in Ungarn

Auch in Ungarn bildeten sich im frühen 20. Jahrhundert die ersten Bewegungen für die Gleichstellung beider Geschlechter. Doch wie sehen die formalen Rechte einer ungarischen Frau heutzutage aus und wie beeinflusst die aktuelle Fidesz-Regierung diese?

Die ersten Bewegungen und das Wahlrecht

Die ersten Frauenrechtsbewegungen mussten in allen Staaten ihren Lauf nehmen, in Ungarn geschah ein großer Teil davon im Dezember 1904 mit der Gründung des Magyarországi Feministák Egyesülete (engl.: Association of Feminists of Hungary, kurz FE). Dies war ein kleiner, aber dynamischer Zusammenschluss, der Minderheitsrechte kritisierte und in der gesamten Bewegung eine wichtige Fraktion bildete. Eine nennenswerte ungarische Feministin, die schon früh für die weiblichen Rechte kämpfte, war Rosika Schwimmer (1877-1948).

In Ungarn wurden die ersten Schritte des Wahlrechts für Frauen im Jahre 1918 durch die Regierung Károlyi vollzogen. Durch diese trat das Volksgesetz Nummer 1 in Kraft, das zum ersten Mal in der ungarischen Geschichte beiden Geschlechtern gleiches aktives und passives Wahlrecht garantierte. Ein Jahr später weitete ein Wahlgesetz stufenweise das Wahlrecht der Frau aus, Frauen, die die ungarische Staatsbürgerschaft besaßen, über 24 Jahre alt waren und lesen und schreiben konnten, durften wählen. Doch die Voraussetzungen, die für die Frauen galten, waren wesentlich strenger als die der Männer, eine Wahlrechtsreform aus dem Jahr 1922 erhöhte das Wahlalter für Frauen auf über 30 und auch die Schulausbildung der Frauen wurde strenger gehandhabt (im Vergleich: Männer brauchten vier Jahre Grundschulausbildung und Frauen sechs Jahre um wählen zu dürfen). Zwei Jahre zuvor, 1920, wurde Margit Slachta (1884-1974) als erste Frau ins nationale Parlament gewählt.

1945 wurde in Ungarn das uneingeschränkte Wahlrecht für beide Geschlechter wiederhergestellt und 1948 durch die Errichtung der Volksrepublik Ungarn, wie wir es heute kennen, zu einem formalen Recht erklärt.

Die aktuellen Rechte und ihre Umsetzung

Das heutige Grundgesetz Ungarns besagt gleiches Recht für Männer und Frauen, garantiert die Menschenrechte für alle und gibt an, Chancengleichheit zu fördern sowie Maßnahmen zum Schutz für Minderheiten (also in gewissermaßen auch Frauen) zu vollziehen. Die politischen Rechte der Frau wurden aus dem UN-Übereinkommen aus dem Jahr 1953 übernommen.

Doch seit Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz das Land seit 2010 regiert, zeigen sich Abweichungen dieser eigentlich geltenden Rechte. Die Vorstellungen der Partei weisen eine eher konservative Geschlechterordnung sowie Familienpolitik vor.

Das wesentliche Ziel der Partei ist es, die Geburtenrate zu erhöhen. Die Rechte der Frauen werden hierbei untergeordnet, laut Orbán müsse sich die Familienpolitik auf die Mütter stützen. Er gibt stolz an, für die Familien zu investieren und tatsächlich fließen ca. 5% des Bruttoinlandsprodukt in die Förderung der Familie ein. Doch diese Unterstützung erhalten nur die Familienkonstellationen, die den Wertevorstellungen der Regierung entsprechen, also knapp zusammengefasst, heterosexuelle Ehepaare mit ehelichen Kindern.

Die Geburtenrate in Ungarn stieg seit Orbáns Amtsantritt 2010 tatsächlich leicht an, die Privilegien, die eine Familie von der Regierung bei vielen Kindern versprochen bekommt, scheinen teilweise zu funktionieren. Je schneller und mehr Kinder eine Frau bekommt, desto praktischer oder, besser gesagt, billiger wird es für die ungarischen Familien. Denn in Ungarn werden die Erlassung von Steuern und billigere Kredite für z. B. Immobilien einer Familie mit Kindern garantiert, bei mehr Kindern werden diese Vorteile stufenweise ausgeweitet. Von diesen Maßnahmen profitieren allerdings nur die reichen Familien.

Allgemein sollten sich die Frauen der eigenen Familie unterordnen. Dazu passen auch die Vorstellungen der ehemaligen Familienministerin Katalin Novák, die sie in einem Video (2020) schilderte (seit 2022 ist sie Staatspräsidentin von Ungarn). Laut ihr müssten sich Frauen nicht immer mit Männern messen und ein kontinuierliches Streben besitzen, die gleichen Positionen oder Bezahlungen zu erhalten. Frauen sollten auf keinen Fall ihre Privilegien wegen eines für sie “falsch verstandenen Kampfes für Emanzipation” (Veyder-Malberg, mdr.de) aufgeben. Eine starke und erfolgreiche Frau übernehme Verantwortung und verzichte zu Gunsten ihrer Familie.

Diese Vorstellungen zur Rolle der Frau spiegeln sich auch in der aktuellen Regierung wieder. Der Frauenanteil in der ungarischen Politik ist gering, man könnte von einer Unterrepräsentierung der Frauen sprechen. Das ungarische Parlament weist einen Frauenanteil von 13% vor, dies ist einer der niedrigsten Prozentanteile, wenn man die Industrieländer betrachtet. In Orbáns Kabinett selbst sitzt die einzige Frau (Justizministerin Judit Varga) 14 Männern gegenüber.

Beim Gleichstellungsindex der EU, der verschiedene Indikatoren wie z. B. Bildung betrachtet, landete Ungarn auf dem vorletzten Platz.

Quellen:
Szapor, Judith. Hungarian Women´s Activism in the Wake of the First World War, From Rights to Revanche. 2018. New York. (Bloomsbury)
Veyder-Malberg, Thyra. Emanzipation Adé, Testlabor Ungarn: Frauen zurück an den Herd!. 2022. mdr.de (https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ungarn-abtreibung-gender-emanzipation-frauenrechte-gleichstellung-100.html)
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenwahlrecht_in_Ostmittel-_und_Osteuropa
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenwahlrecht_in_Europa#Antifeminismus
https://emberijogok.kormany.hu/nok

Titelbild: Zoe VandeWater auf Unsplash

Text: Liv Kallender, Praktikantin, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach

Parlamentswahlen in Finnland – ein Kopf-an-Kopf-Rennen?

Am Sonntag, den 2. April 2023 wählen die Finninnen und Finnen zum 39. Mal ein neues Parlament, das sie für die kommenden vier Jahre vertreten wird. Laut aktuellen Prognosen wird das Ergebnis dieser Wahl alles andere als deutlich.

Alle Wahlberechtigten, dies umfasst finnische Staatsbürger*innen über 18 Jahren, haben die Möglichkeit, am offiziellen Wahltag von 9-20 Uhr in einem Wahllokal vor Ort wählen zu gehen. Wer nicht am Wahltag seine Stimme abgeben kann oder möchte, kann dies bei den sogenannten Vorwahlen tun. Dieses Angebot besteht in Finnland bei den diesjährigen Wahlen vom 22.03.-28.03.2023, finnischen Staatsbürger*innen, die sich im Ausland befinden, steht dieses Jahr zum ersten Mal die Briefwahl im Zeitraum vom 22.03.-25.03.2023, zur Verfügung. Das offizielle Ergebnis wird voraussichtlich am 5. April bekanntgegeben.

Finnland ist eine parlamentarische Republik. Das Parlament ist nicht nur für die Regelung des Staatshaushaltes zuständig, es vertritt auch Finnlands Position in der europäischen Union. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Wahl eines wichtigen Amts des Landes, die Wahl des oder der Regierungschef*in. Diese Wahl wird vom Parlament vollzogen, die amtierende Ministerpräsidentin des Landes ist seit 2019 Sanna Marin.

Das finnische Parlament verfügt über 200 Sitze, wer dort Platz nehmen darf, wird durch das sogenannte Verhältniswahlrecht bestimmt. Es gibt 13 Wahlkreise (die Anzahl der Kandidat*innen pro Wahlkreis hängt vom Bevölkerungsanteil in dem jeweiligen Kreis ab), in jedem stellen die Parteien eine Liste mit ihren Kandidat*innen auf, die Wähler*innen stimmen jeweils für einen oder eine Kandidat*in ihres Kreises ab und wählen somit ebenfalls dessen Parteiliste. Die abgegebenen Stimmen innerhalb der Kreise werden mit Hilfe des D’Hondt-Verfahrens in Mandate und somit am Ende in Sitze im Parlament umgerechnet.

Kandidieren darf grundsätzlich jede`*r, der oder die eine Wahlberechtigung hat, die Kandidat*innen werden von Parteien oder Verbänden gestellt.

Seit der letzten Parlamentswahl im Jahre 2019 repräsentieren neun verschiedene Parteien das finnische Parlament. Diese Wahl gewann die Sozialdemokratische Partei Finnlands (finn.: Suomen Sosialidemokraattinen Puolue, kurz SDP) mit 17,7% und bekam somit 40 der 200 Sitze im Parlament, für die Partei war es der erste Wahlsieg seit 1999. Nur knapp dahinter landete die rechtspopulistische Partei Die Finnen (finn.: Perussuomalaiset, kurz PS) mit 17,5%, sie erlangten dadurch 39 Sitze. Die Nationale Sammlungspartei (finn.: Kansallinen Kokoomus, kurz Kok) wurde mit 17% und 38 Sitzen die drittstärkste Kraft.

Die Prognosen der kommenden Wahl weisen dieselben drei Favoritenparteien vor, nach aktuellen Umfragen wird es voraussichtlich erneut ein enges Rennen um den Wahlsieg geben. Nach einer Umfrage von Taloustutkimus vom 2. März 2023 liegt die Nationale Sammlungspartei mit 20,8% vorne, dahinter landet die Sozialdemokratische Partei (19,9%) und den Platz der drittstärksten Kraft belegt die Partei Die Finnen mit 19,0%.

In den kommenden, entscheidenden Wochen werden die Parteivorsitzenden der drei Parteien ihren Wahlkampf aktiv fortsetzen müssen, um potentielle Wähler*innen zu überzeugen. Laut Markku Jokisipilä (Direktor des Zentrums für parlamentarische Unterstützung) sind die Unterschiede so gering wie noch nie zuvor, somit hätten alle drei Parteien mit ihren Vorsitzenden Sanna Marin (SDP), Riikka Purra (PS) und Petteri Orpo (Kok) das Potential zu gewinnen.

Im Wahlkampf selber ist die Wirtschaft nach wie vor das Hauptthema, doch auch der NATO-Beitritt des Landes wird debattiert.

Eines ist klar: Eine Koalition trotz abweichender politischer Interessen zwischen den einzelnen Parteien muss gebildet werden, doch wie diese aussehen wird, wird sich im Wahlergebnis widerspiegeln.

Quellen:
https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/parlamentswahlen-in-finnland-2023-umfrage-wahltermin-parteien-id65774501.html (abgerufen am 20.03.2023)
https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_Finnland_2023 (abgerufen am 20.03.2023)
https://vaalit.fi/en/parliamentary-elections (abgerufen am 20.03.2023)
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/289236/parlamentswahl-in-finnland/ (abgerufen am 20.03.2023)
https://yle.fi/a/74-20020629 (abgerufen am 20.03.2023)
https://www.hs.fi/politiikka/art-2000009459854.html (abgerufen am 21.03.2023)

Titelbild: Dan Dennis auf Unsplash
Bildquelle Parlament: Joakim Honkasalo auf Unsplash

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Minna Canth – Finnlands erste Feministin

Der sogenannte Minna-Canth-Tag oder auch der tasa-arvon päivä (zu deutsch: Tag der Gleichstellung) jährt sich in Finnland dieses Jahr am 19. März zum 16. Mal. Die Namensgeberin Ulrika Wilhelmina Johnsson (1844-1897) war sowohl Finnlands erste bekannte Schriftstellerin als auch Frauenrechtlerin. Ihr Oeuvre umfasste Kurzgeschichten, Novellen, Theaterstücke sowie journalistische Werke.

In ihrem Leben übernahm sie diverse Rollen, die als Frau, Mutter, Geschäftsfrau und Schriftstellerin. Mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebte sie in Jyväskylä. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie Geschäftsfrau und erlang somit finanzielle Unabhängigkeit, die ihre Aktivität sowohl in literarischen als auch sozialen Kreisen prägte.

Minna Canth (1891)

Ihre Karriere als Schriftstellerin begann mit journalistischer Arbeit für lokale Zeitungen, dies weitete sich in den folgenden Jahren auf nationaler Ebene aus. Sie begann mit eigenen Werken, welche die damaligen strukturellen Bedingungen von Frauen und der Arbeiterklasse kritisierten. Ihr rhetorischer Schreibstil, der Fragen und direkte Appelle an die Leser*innen beinhaltete, machte auf soziale Ungleichheit aufmerksam. Canths Werke sind sowohl in finnischer als auch schwedischer Sprache verfasst.

Große Anerkennung erhielt sie für ihre realistische Darstellung von Frauen und der Infragestellung von patriarchalen Normen. Aktivismus, der für die heutige Gesellschaft selbstverständlich erscheint, war zu Lebzeiten von Canth äußerst kontrovers. Sie war ihrer Zeit oftmals voraus, dies sorgte beispielsweise für das Verbot ihres Stückes Unglückskinder (1888).

Laut Minna Rytisalo (Autorin und Lehrerin) sei Canth gewissermaßen die erste Feministin Finnlands gewesen. Für Canth hatten Frauen das Recht auf Ausbildung in allen Bereichen, in ihren Stücken repräsentierte sie emanzipierte Frauen, zum Beispiel in ihrem Stück Sylvi (1893).

Auch heute zeugen Canths Schriften von Relevanz, trotz der Ausweitung der Gleichstellung und der Rechte für Frauen (Finnland führte beispielsweise im Jahre 1906 als erstes europäisches Land das Wahlrecht für Frauen auf nationaler Ebene ein). Ihre Denkweise inspirierte über Generationen hinweg die finnische Frauenliteratur und auch heute können wir von Canth lernen, denn der Aktivismus für die Gleichstellung der Geschlechter zeigt sich beständig.

Quellen:
https://finland.fi/de/kunst-amp-kultur/finnische-autorin-minna-canth-kam-sah-und-trat-aktion/
https://kansallisbiografia.fi/

Bildquellen:
Titelbild: Markus Winkler auf Unsplash
Minna Canth: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Minna_Canth_vuonna_1891.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – eine Kraft der Märzrevolution

Ungarns bedeutender Dichter Sándor Petőfi (1823-1849) prägte nicht nur die ungarische Literatur, sondern spielte auch eine wichtige Rolle beim Ausbruch der ungarischen Revolution im März 1848. Er machte sich somit nicht nur als bekannter Schriftsteller, sondern auch als Freiheitskämpfer einen Namen.

Petőfi stammt aus Ungarn, wächst im Genuss guter Bildung auf, doch er schlägt einen anderen Weg, ohne Schulabschluss, als Dichter ein. Durch seinen Umzug nach Pest im Jahre 1844 verspricht er sich eine steigende Karriere als Dichter, die ihm mit Hilfe eines anderen Journalisten folglich gelang. In den darauffolgenden Jahren baute er seinen Erfolg aus. Seine Werke und seine sowohl thematischen als auch stilistischen Markenzeichen zeugen auch heute noch von großer Bekanntheit. Weitere Informationen zu Sándor Petőfis Wirken erfährt man in unserem letzten Blogbeitrag.

Trotz Petőfis höherem Bekanntheitsgrad als Dichter, nimmt seine Persönlichkeit, in Gedenken der Märzrevolution, bei dessen Anfängen und auch in den darauffolgenden Jahren, einen wichtigen Platz ein.

Historisch betrachtet befand sich Europa durch den Ausruf der zweiten französischen Republik am 24. Februar 1848 in Aufbruchsstimmung. Die bürgerlichdemokratische Revolutionswelle erfasste auch das Königreich Ungarn, Petőfis Heimatland.
Diese Welle traf durch die angespannte Lage im Kaisertum Österreich (Ungarn forderte den Ausbau der nationalen Unabhängigkeit) in Ungarn schnell auf Befürworter. Gewaltlose Massendemonstrationen in Pest und Buda ereigneten sich am 15. März, das sogenannte ZwölfPunkteProgramm der ungarischen Revolutionäre wurde von dem kaiserlichen Gouverneur akzeptiert und landesweite Aufstände brachen aus. Daraus resultierte der Ausruf einer neuen Regierung Ungarns, mit Lajos Batthyány als Ministerpräsidenten. Seine Regierung verabschiedete anschließend die sogenannten März– oder Aprilgesetze, die Ungarns Staatsform reformierten: Ungarn wurde eine konstitutionelle Monarchie.

Die ungarischen Revolutionäre forderten in ihrem Programm, das zur Freiheit der Bevölkerung und der Demokratisierung des Landes beitragen sollten, unter anderem die Pressefreiheit sowie die Aufhebung der geltenden Zensur und der Frondienste.

Unter den Revolutionären befand sich auch Sándor Petőfi. Er war vor allem am Ausbruch der Demonstrationen am 15. März 1848 beteiligt und ist somit einer der wichtigsten Repräsentanten, wenn man die Anfänge der ungarischen Revolution betrachtet.

Zur Zeit diesen Ausbruchs agierte Petőfi als einer der Anführer der radikalrevolutionären intellektuellen Jugend. Diese berief sich ebenfalls auf das ZwölfPunkteProgramm, das er gemeinsam mit anderen Revolutionären bei dem Versuch der Mobilmachung von Studenten proklamierte. Aus dieser Mobilmachung folgte der bekannte Aufstand für die Revolution.

Sándor Petőfis Gedicht Nationallied (Nemzeti dal) wurde durch seine spontane Darbietung anlässlich des Aufstands zu der Hymne der Revolutionäre (Talpra magyar, hí a haza!; zu deutsch: Auf, die Heimat ruft, Magyaren!). Es gelang durch den Zwang des Drucks des Gedichts, den die Revolutionäre auf die Druckerpresse ausübten, unzensiert in den Umlauf. Das Gedicht stößt bei der Bevölkerung auf Begeisterung, daher wurde es am selben Tag als Zeichen des Wandels bei der Volksversammlung erneut vorgetragen.

In den darauffolgenden Jahren wurde Petőfi Mitglied zahlreicher politischer Delegationen und Kommissionen. Er war Kapitän der Nationalgarde von Pest und schloss sich dem sogenannten Gleichheitsklub (Egyenlőségi Társulat), dem radikalsten Flügel der Revolution an. Im Oktober 1848 wurde er Hauptmann in Debrecen und ab 1849 diente er dem polnischen General Józef Bem in Siebenbürgen.

Sándor Petőfi fiel 1849 bei der Schlacht von Schäßburg, sein Grab ist bis heute unbekannt.

Petőfi zeigte zu seinen Lebzeiten politisches Engagement, sein Leben war eng mit dem Kampf um die Freiheit verbunden. Seine revolutionäre Seite erkennt man auch in seinen Werken wieder, politische Aspekte prägten diese in seiner gesamten schriftstellerischen Tätigkeit. Von Beginn an forderte er die Unabhängigkeit des ungarischen Nationalstaates.

Quellen:
Koch, Peter. Revolutionen in Ungarn. Umbruch 1989/90 und frühere Bewegungen. URL: https://osteuropa.lpb-bw.de/revolution-in-ungarn, abgerufen am 15.03.2023.
László Révész. Petőfi, Sándor. In: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 447-449 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1529, abgerufen am 15.03.2023.
Schlosser, Christine. 2009. Zwei Jahrzehnte ungarische Literatur in deutscher Übersetzung. 1988-2008. Eine kommentierte Bibliographie. Budapest.
Wollstein, Günther. 2010. Märzrevolution und Liberalisierung. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/revolution-von-1848-265/9875/maerzrevolution-und-liberalisierung/, abgerufen am 15.03.2023.
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi, abgerufen am 15.03.2023.

Bildquellen:
Titelbild: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_Nemzeti_M%C3%BAzeum.jpg
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_S%C3%A1ndor.jpg
Nationallied: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi#/media/File:Nemzetidal.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – seine Wirkung als Dichter

Sein 200. Geburtstag, welcher sich am 1. Januar 2023 ereignete, bietet eine gute Gelegenheit den Dichter Ungarns zu betrachten, der die Zukunft entscheidend veränderte und die Vergangenheit nach seinem Bild umformte.

Sándor Petőfi (1823-1849) weist eine dokumentierbare Erfolgsgeschichte vor, die einzigartig für die ungarische Literatur ist. Diese zeugt allerdings auch von zahlreichen Verstößen gegen damalige literarische, gesellschaftliche und politische Normen.

Petőfi stammt aus einer Ungarisch sprechenden Familie slowakischen Ursprungs, die an einem lutherischen Glauben festhielt. Da seine Eltern seine schulische Ausbildung förderten, hatte er gute Chancen auf eine Karriere und damit auch auf soziale Mobilität, obwohl er aus keiner Adelsfamilie stammte. Doch als er 1842 bewusst das Gymnasium ohne schulischen Abschluss verließ, verzichtete er auf diese von seinen Eltern gebotene Möglichkeit.

Seine eigene Identitätsbildung wurde allerdings durch kollektive Adelsrechte, welche er durch seinen Vater erlangte (dieser erwarb einen Landsitz), geprägt. Petőfi war zwar nicht adelig gewesen, sondern gehörte lediglich einem gewissen Stand an, bis sein Vater seine Ländereien verlor, doch diese Zugehörigkeit hatte ihre Grenzen, die beispielsweise auch ein alter Mitschüler schilderte, Petőfi sei ein aufdringlicher, slowakischer und lutherischer Schüler.

Seine politische Karriere scheiterte bereits 1848 bei den Wahlen zum Parlamentsabgeordneten. Dort versuchte er, seine Wähler mit einem Wir-Bewusstsein zu überzeugen, doch dies blieb erfolgslos.

Sein Erfolg als Dichter war im Einklang mit dem damaligen politischen und gesellschaftlichen Wandel des Landes, es bildeten sich Tendenzen zur Demokratisierung. Die Kriterien zu der Zugehörigkeit einer Gesellschaft wandelten sich, ein neues Kulturverständnis und der Begriff der Volkskultur entstand. Somit bekam auch die literarische Kunst eine neue Bedeutung und eine Art Presselandschaft wurde in Ungarn gebildet.

Dank diesem Wandel erlangten auch Dichter*innen und Schriftsteller*innen einen neuen Status. Dies half auch Petőfi, als er in den 1840ern seinen Auftritt als Dichter begann. Um diese Karriere zu fördern und auszubauen, verließ er 1844 seinen damaligen Wohnort Debrecen und zog nach Pest, dort erhoffte er sich einen Aufschwung als Dichter.

Durch diese weitere bewusste Entscheidung schaffte der Dichter es noch zu Lebzeiten, sich eine eigene Marke zu erstellen. Er brachte eine Art volkstümliche Kultur mit, diese spielte auch in seinen späteren Gedichten eine wichtige Rolle.

Mit Hilfe von Imre Vahot (dieser war ein ungarischer Schriftsteller und in Besitz einer eigenen Zeitschrift) gelang Petőfi die Erstellung eines öffentlichen Bildes. Imre Vahot kaufte die Rechte seiner Gedichte, stellte ihn in der Öffentlichkeit als Naturgenie dar, und prägte somit seine öffentliche Präsenz und Wirkung. Durch die Entwicklung einer Art Markenstrategie und die publike Anpassung Petőfis gelang es tatsächlich seinen Erfolg auf landesweiter Ebene auszubauen.

Auch zu seiner Persönlichkeit gab es geteilte Meinungen. Konservative Kritiker*innen sahen in ihm Entwürdigung der Dichtung, doch aus Sicht seiner Freunde brachte er frischen Wind und belebte die damalige Literatur.

Ein interessanter Fakt zu seinen Anfängen als Dichter betrifft seine erste Leserschaft. Denn obwohl Petőfi eine volkstümliche Stimme war, bestand diese nicht aus dem einfachen, ungebildeten Volk, sondern aus der adelig- bürgerlichen Schicht, vermehrt Frauen.

Sándor Petőfi besaß sowohl als eigene Persönlichkeit als auch als Stimme hinter seinen Dichtungen viele Markenzeichen. Immer wieder zeugte seine Poesie von Verständlichkeit, seine Texte benötigten keine Interpretationen, was er sagte, wurde verstanden. Für ihn war es wichtig, dass das Publikum seine Werke verstehen und aufnehmen kann, die Einhaltung der Regeln der damaligen Poesie standen für ihn nur an zweiter Stelle. Er wirkte durch diesen Aspekt und durch seine demokratisierende Sprache vielmehr als romantisches Genie. Sein Mythos beinhaltete auch das Grundprinzip des Nationalismus.

Die bereits genannte Volkstümlichkeit war eines seiner wichtigsten Markenzeichen, die damalig vorhandenen Mittel der ungarischen Literatur überführte er ebenfalls in diese. Auch die dazugehörige Volkssprache spielte in seinen späteren Werken eine Rolle. Für ihn war sie die Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung. Ein Beispiel für diese Akzente findet man in seinem Werk Held János.

Die Freiheit und seine dazugehörigen Ideologien prägten seine Werke ebenfalls, er zeigte diese ganz offen, der Begriff der Freiheit war für ihn die Grundlage des Lebens und der Politik. Aber auch der Individualismus war hiermit verbunden, sein Gebot der Freiheitsideologie besagt, dass das Individuum über allem stehe.

Den Aspekt der Politik baute er auf eine natürliche Art und Weise in seine Lebensweise, Weltanschauung und Dichtung ein. Sein offen erkennbares politisches Denken wurde in den letzten Jahrzehnten oftmals debattiert, allerdings ohne ein aussagekräftiges Ergebnis.

Petőfis Bekanntheit erlang ein individuelles Ausmaß, er wurde in gewissermaßen zur Symbolfigur des Demokratisierungsprozesses Ungarns, die selber aus dem Volk stammte.

Die lebendige Sprachweise, die Leidenschaft und seine persönliche Haltung verliehen seinen Dichtungen einen individuellen Touch, dadurch hoben diese sich, trotz ähnlichen Thematiken, von den Werken seiner Zeitgenossen ab.

Quellen:
E. Csorba, Csilla (2015): A Petőfi-dagerrotípia. Miért azt látjuk, amit látunk? Rubicon 2015/7. 58-63.
Fekete, Sándor (1977): Így élt a szabadságharc költője
Margócsy, István (1998): A szabad elvű Petőfi. Holmi, 1998/3. 309-322.
Margócsy, István (2003): “…ikercsillagok, egymás kiegészítői…” Petőfi és Arany kettős kultusza és kettős kanonizációja. ItK, 2003/4-5. 442-469.
Milbacher, Róbert (2023): Petőfi, a normaszegő. Élet és Irodalom, 2023/7, 13.
Pesti, Brigitta: Einführung in die ungarische Literaturgeschichte I. Ungarische Literatur von ihren Anfängen bis zur beginnenden Moderne
Szilágyi, Márton (2015): Petőfi Sándor és a polgári létezés lehetőségei. Rubicon 2015/7. 14-19.
Szolláth, Dávid (2004): A kultuszkutatás két tendenciája. In: Buksz, 2004/3. 232-240.

Präsentationsskript des Vortrags “Sándor Petőfi – Entstehung einer Kultmarke” von PhD Judit Molnár, Finnisch-Ugrisches Seminar der Georg-August-Universität Göttingen (2023)

Bildquellen:
Titelbild: Digital Content Writers India auf Unsplash
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Orlai-petofi1.jpg
Kokarde: Hungarian cockade von Khalai via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magyar_kok%C3%A1rda.png (CC BY-SA 3.0)

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Alvar Aalto und die finnische Architektur

Alvar Aalto ist nicht nur in Finnland bekannt, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus. Der 1898 in Kuortane, Finnland geborene Architekt und Designer entwarf im Laufe seines Lebens eine Vielzahl an Gebäuden in der ganzen Welt: Von Finnland über Deutschland, Russland und bis in die USA – seine Architektur ist für ihre besondere Form und seinen Modernismus berühmt. Doch auch mit dem Design von Glas und Möbeln machte er sich einen Namen: Die Savoy-Vase (1936) und der Stuhl 611 (1929) sind ebenso weltberühmt.

Savoy-Vasen (Foto von Hayffield L auf Unsplash)

Aalto war der älteste Sohn eines Landvermessers und einer Postangestellten und die junge Familie zog bald von seinem Geburtsort nach Jyväskylä, das später eine wichtige Wirkungsstätte für ihn werden sollte. Nach dem Schulabschluss schrieb er sich für ein Architekturstudium am Polytechnikum Helsinki (später Technische Hochschule) ein und schloss es 1921 ab.

Danach begann Aalto, in Helsinki zu arbeiten, wo er jedoch nicht zufrieden war. Seine ersten Auftragsarbeiten fertigte er 1921 und 1923 anderenorts. 1923 war auch das Jahr, in dem er in seiner Schulstadt Jyväskylä ein Architekturbüro eröffnete. Dort stellte er Aino Marsio, die ebenfalls Architektur studiert hatte, 1924 ein und heiratete sie noch im selben Jahr. Die beiden bekamen zwei Kinder und arbeiteten im Laufe ihres restlichen gemeinsamen Lebens eng zusammen.

1927 folgte ein Umzug nach Turku, nachdem Aalto eine Wettbewerbsausschreibung gewann. Dort verwirklichten sie neue Ideen und Trends: Auf ihren vielen Reisen nahmen die Aaltos neue Impulse aus ganz Europa auf und wandten sich dabei Schritt für Schritt vom neoklassizistischen Stil ab und dem funktionalen Design zu. Dies zeigt sich beispielsweise im Design neuer Wohnkomplexe und der Gestaltung von Wohnungen als funktionale Einheit.

1929 war für Aalto ein wichtiges Jahr. Nicht nur designte er zusammen mit dem Architekten Erik Bryggman die Turkuer Messe, er schloss auch Bekanntschaft mit weiteren wichtigen Persönlichkeiten seiner Zeit, so z. B. László Moholy-Nagy, der am Bauhaus in Weimar unterrichtete. Die neuen Impulse verarbeitete er insbesondere in dem Bau des Sanatoriums von Paimio, das ihn auch im Ausland berühmt machte. Es folgten weitere Aufträge in Helsinki und Viipuri (Wyborg) und auch die Möbel aus dem eigenen Design hatten mehr und mehr Erfolg. 1935 gründeten die Aaltos zusammen mit Maire Gullichsen und Nils-Gustav Hahl die Firma Artek, mit der sie ihre Möbel vertrieben und eine neue Form der modernen Wohnkultur verbreiten wollten.

Jyväskylä, Finnland (Foto von K8 auf Unsplash)

Ende der 1930er reiste Aalto in die USA und begann, sich mehr und mehr für Standardisierung zu interessieren. Eines seiner Markenzeichen wurde dabei die Verwendung von lokalen Materialien als Bestandteil seiner Designs.

Nach Ende des zweiten Weltkriegs designte Aalto das MIT Baker House (USA), bei dem er zum ersten Mal extensiver Backsteine als Baumaterialien einsetzte. Die Faszination von Backstein als Material war so groß, dass Aalto Ende der 1950er sogar eine eigene Form davon entwickelte und in seinen Gebäuden einsetzte, um ihnen die für seinen Stil charakteristischen Wellenformen zu geben.

Seine Frau Aino starb 1949 und riss damit ein Loch nicht nur in Aaltos Leben, sondern auch in sein Wirken, denn sie war es, die mit ihrem besonderen Auge für Ästhetik für das Design der Innenräume zuständig war. Von ihr stammen auch die Glas-Designs wie Riihimäen Kukka (Blume von Riihimäki).

1952 heiratete Alvar Aalto erneut. Seine Frau Elissa (Elsa-Kaisa) hatte ebenso Architektur studiert und arbeitete seit 1949 in Aaltos Architekturbüro. Nach seinem Tod 1976 war sie es, die seine nicht abgeschlossenen Arbeiten vollendete, so z. B. das Aalto-Theater in Essen.

Aaltos Geburtstag, der 03. Februar, ist auch der Tag der finnischen Architektur und des Designs.

Titelbild: Shahabudin auf Unsplash

Quellen:
https://fi.wikipedia.org/wiki/Alvar_Aalto
https://fi.wikipedia.org/wiki/Luettelo_Alvar_Aallon_suunnittelemista_rakennuksista
https://kansallisbiografia.fi/kansallisbiografia/henkilo/1408
http://www.laszlo-moholy-nagy.de/
https://www.theater-essen.de/tup/spielstaetten/aalto/
https://www.alvaraalto.fi/tyo/aalto-maljakko/#
https://www.alvaraalto.fi/tyo/tuoli-611/#
https://www.artek.fi/fi/yritys/tarinamme
https://www.alvaraalto.fi/tietoa/alvar-aallon-elama/
https://www.alvaraalto.fi/tietoa/aino-aalto/
https://www.alvaraalto.fi/en/information/elissa-aalto/
Leskinen, Taru-Orvokki. 2021. Aaltojen Kuviot. Alvar, Aino ja Elissa Aallon suunnittelemat tekstiilit. Jyväskylä.
Lohtaja, Aleksi. 2021. Alvar Aalto, avantgarde ja politiikka. In: Tietolipas 267. 192-213.

Happy Birthday, Himnusz!

Eine Hymne, gerade eine Nationalhymne, das ist eigentlich mehr als Musik. Sie ist zugleich auch immer ein Teil von Identität, ein Bekenntnis und eine Zugehörigkeit. Es gibt schmetternde, kämpferische, eher sanfte, nachdenkliche, mal schnell, mal langsam, aber immer wollen Hymen Bekenntnis ablegen, Bekenntnis zum König („God save the King“ oder „Gott erhalte Franz den Kaiser“) oder zur Heimatliebe, wie die Norwegische schon im Titel mit „Ja, vi elsker dette landet“ („Ja wir lieben dieses Land“) verkündet. Manche Hymnen künden vom eigenem Land als einem gesegneten. Die Ungarische erbittet erst den Segen Gottes: „Isten, áldd meg a magyart.“ („Herr, Segne reich den Ungarn“) Zwar wurde der Text des Liedes bereits am 23. Januar 1823 im Dorf Szatmárcseke von Ferenc Kölcsey vollendet, aber erstmals veröffentlicht wurde er in der Literaturzeitschrift Aurora des Dichters Károly Kisfaludy 1828, damals noch ohne den Untertitel „A magyar nép zivataros századaiból“ („Aus den stürmischen Jahrhunderten des Ungarischen Volkes“), der erst in einer Textsammlung des Autors aus dem Jahr 1832 auftaucht. Die Tatsache, dass der Untertitel zunächst fehlte, wurde auf die in der österreichischen Monarchie allgemein vorherrschenden Zensur zurückgeführt und der Verweis auf die Vergangenheit sollte den Zensoren als Ablenkung und Beschwichtigung dienen. Diese These kann jedoch dadurch widerlegt werden, dass der Text zunächst weder 1828, noch 1832 große allgemeine Beachtung fand.
Durchgängig anzuhören ist dem Text die Anrufung an den lieben Gott, der den Ungarn verzeihen möge, für die Sünden der Vergangenheit.

[…]
Őseinket felhozád
Kárpát szent bércére
Hajh, de bűneink miatt
Gyúlt harag kebledben,
S elsújtád villamidat
Dörgő fellegedben,

[…]
Szánd meg Isten a magyart
Kit vészek hányának,
Nyújts feléje védő kart
Tengerén kínjának.
Bal sors akit régen tép,
Hozz rá víg esztendőt,
Megbűnhődte már e nép
A múltat s jövendőt!

[…]
Du hast unsere Vorfahren
Zu dem heiligen Karpatengipfel gebracht
Doch wegen unserer Sünden
Sammelte sich Zorn in deiner Brust
Und deine Blitze trafen uns
Aus deinen donnernden Wolken,

[…]
Hab’ Mitleid, Herr, mit dem Ungarn,
Den die Gefahren schütteln,
Beschütze ihn mit deiner Hand,
Im Meer der Qualen.
Denen die schon lange vom Schicksal nicht
verschont,
Bring ihnen eine bessere Zeit.
Denn dies Volk hat schon gebüßt
Für Vergangenes und Kommendes.

Doch auch ein „Klassiker“ der Nationalhymnen taucht im Himnusz auf: Nämlich das Anpreisen der schönen Landschaft und die Markierung wichtiger geographischer Punkte, die als national bedeutend angesehen werden. In obiger zweiter Strophe war bereits von den Kapartengipfeln die Rede. Auch Getränke tauchen schließlich gelegentlich in Hymnen auf, wie z. B. der „deutsche Wein“ im „Lied der Deutschen“ Die Tokaj und ihr Wein dürfen da auf keinen Fall fehlen! Ihm wird in der dritten Strophe Ehre erwiesen:

Értünk Kunság mezein
Ért kalászt lengettél,
Tokaj szőlővesszein
Nektárt csepegtettél.

[…]

Für uns auf den Kunság-Feldern
Wiegt sich das reife Getreide,
Von den Tokajer Hängen
Lässt du Nektar tropfen.

[…]

Die bildliche Geschichte und der überzeitliche religiöse Bezug tragen mit dazu bei, die Hymne zu vielfältigen Gelegenheiten, egal ob Gottesdienst oder Silvester, singbar zu machen. Die Musik zum Text wurde von Ferenc Erkel 1844 komponiert. Dieser gilt als Schöpfer der ungarischen Nationaloper und dies obwohl er nicht ungarischer Muttersprachler war. Den Einfluss französischer Opernkomponisten und Wagners auf seinen Stil ist auch dem „Himnusz“ anzuhören. Die Hymne beansprucht immerhin einen Stimmumfang von anderthalb Oktaven und ist daher nicht
leicht zu singen. Genauso an eine Oper erinnert der Aufbau. In einfacher Dur-Melodie gehalten, steigert sie sich zum Mittelteil hin und verklingt in sanftem Pianissimo. Aufgeführt als Sieger eines Preisausschreibens zur Vertonung des Gedichts von Körcsely wurde das Stück erstmals am 2. Juli 1844. Erstmals angestimmt wurde der Gesang der Hymne zu dem ihm zugedachten Stück in den Zeiten der Revolution 1848. Dieses Lied hatte sich durchzusetzen gegen den Widerstand, sogar von höchster Stelle. Kaiser Franz Joseph I. verweigerte einem Gesetz, welches sie offiziell als Hymne Ungarns anerkennen sollte, im Jahre 1903 die Unterschrift.

Während in anderen Ländern mit wechselhafter Geschichte und wechselnden politischen Systemen die Nationalhymnen und die Texte munter getauscht wurden, widersetzte sich der Himnusz auch den Ersetzungsversuchen der kommunistischen Zeit. Damals beauftragte man in den 1950er-Jahren den Musikwissenschaftler und Komponisten Zoltán Kodály mit der Komposition einer neuen Hymne, da insbesondere der religiöse Kontext, der bereits in der ersten Zeile zum Ausdruck kommt, den damaligen kommunistischen Machthabern missfiel. Kodály soll den Auftrag aber mit den Worten „Wieso die alte ist doch gut?“ brüsk abgelehnt haben. So behielt Ungarn seine Hymne durchgehend bis heute. Anlässlich des 200. Geburtstages der Hymne wurde zahlreiches Originalmaterial und Wissenswertes rund um die Hymne neu zusammengetragen unter https://www.magyarhimnusz.hu/

Aus Anlass dieses Geburtstages wird seit 1989 alljährlich in Ungarn der Tag der Ungarischen Kultur begangen. „Dieser Tag soll uns daran erinnern, dass wir auf ein tausendjähriges Erbe zurückblicken können und dass wir auf vieles stolz sein können, da diese Nation der Kultur Europas und der Welt viel gegeben hat. Es handelt sich um ein Erbe, das erhalten und verwaltet werden kann und das auch zur Lösung der heutigen Probleme beitragen kann.“ schrieb Pianist Árpád Fasang im Jahr 1985, nachdem er den Gedenktag „Tag der Ungarischen Kultur“ initiiert hatte.

Auch die Finnougristik in Göttingen gratuliert herzlich! Happy Birthday Himnusz!

Text: Alexander Paul Freyer

Titelbild: https://de.wikipedia.org/wiki/Himnusz#/media/Datei:Himnusz.jpg, gemeinfrei

Quellen:
Ulrich Ragozat: Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon., Herder-Verlag, Freiburg, 1982 (S.251-254)
János, Kenyeres: “Manifestations of Hungarian Identity in Literature.”, in: Hungarian Cultural Studies. e-Journal of the American Hungarian Educators Association, Volume 12, 2019
Daniel Vargha: Tag der Ungarischen Kultur: „Die fast 200 Jahre alte Hymne, die erst vor 33 Jahren offiziell wurde“, abgerufen unter: https://ungarnheute.hu/news/tag-der-ungarischen-kultur-die-fast-200-jahre-alte-hymne-die-erst-vor-33-jahren-offiziell-wurde-76435/
https://www.magyarhimnusz.hu/