Das Licht in deinen Augen

Turku ist eine Stadt voller Kultur und Literatur, und auch der Schriftsteller und Lehrer Tommi Kinnunen wohnt hier. Zwei seiner vier erschienen Werke wurden bereits ins Deutsche übersetzt. Während der Debutroman Wege, die sich kreuzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt, folgt der zweite Roman der begonnenen Familiengeschichte weiter bis in die späten 80er, frühen 90er Jahre, und kann auch alleinstehend gelesen werden.

Das Licht in deinen Augen (finnisch Lopotti) erzählt die Geschichte zweier Menschen, denen ein Leben im gesellschaftlichen Abseits vorherbestimmt scheint: Helena wächst in den vierziger Jahren heran. Als Säugling erblindet, muss sie als Kind ihre Familie in Nordfinnland verlassen, um in Helsinki auf eine spezielle Schule zu gehen. Dort erkämpft sie sich ein eigenständiges Leben. Fast vierzig Jahre später lässt ihr Neffe Tuomas das gleiche Dorf zurück, in dem er sich ebenfalls nicht willkommen fühlt, denn er ist homosexuell. Episodenhaft werden Kindheit, Erwachsenwerden und Leben der beiden Figuren miteinander verwoben, ihre Perspektiven aufeinander, auf ihre Familie und die Welt zu einem komplexen Gefüge zusammengesetzt, in dem es keine einfachen Antworten gibt.

Beeindruckend ist die sanfte, poetische Sprache, mit der Kinnunen vom Schmerz seiner Figuren erzählt. Die neunjährige Helena lässt sich von ihrem Drachen in einen Sturm fortziehen, als ihr Vater ihr sagt, dass sie auf die Blindenschule fortgeschickt wird, fast 800 Kilometer in den Süden: „Der Wind riecht nach Tannennadeln und Moor. Unten streckt die Kälte ihre Fangarme aus und versucht, mich zu packen, schafft es aber nicht. Ich bin so hoch oben, dass der Winter mich nicht erreicht. (…) Der Sturm zieht mich nicht mehr höher, sondern trägt mich nach Norden, wo die Zeit stillsteht und der Frühling nie kommt und keiner jemals weggehen muss.“ (S. 106) Der jugendliche Tuomas wiederum kann sich zumindest auf den bevorstehenden Abschied vorbereiten, als er in Alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten über Homosexualität liest, sie sei „ein Makel, den man durchs Leben tragen muss“ (S. 107): „Es scheint noch kälter zu werden. Tuomas wickelt sich den Schal vor den Mund und versucht, durch ihn hindurch zu atmen. Er hat vor, alle Wege und Wohngebiete des Dorfes zu durchstreifen. Sich die Routen und jedes Gebäude einzuprägen, die hohen, gebogenen Kiefern in den Wäldern und die unter dem Schnee begrabenen Büsche. Er nimmt schon jetzt Abschied von diesen Orten, obwohl er noch nicht wegzieht. Doch dieser Moment rückt mit jedem Tag näher.“ (S. 113)

„Jeder Mensch muss entscheiden, ob er sich vor der Welt fürchten will oder nicht.“ (S. 45) Das ist der Leitsatz von Helenas Mutter, Tuomas‘ Oma, die wenig Verständnis aufbringt für Andere. Die nicht zugeben will, dass ihre Familie aus „Lopotti“ stammt, dem Dorf der verrufenen Frauen. Deren schlimmstes Urteil ist: „Er ist anders als die anderen.“ Die damit die Einsamkeit, in der sie selbst gefangen ist (denn sie ist das uneheliche Kind der verrufenen Frau aus Lopotti), an ihre Nachkommen weitergibt.

So bewahrt die Erzählung die Balance im Aufzeigen der äußeren und inneren Faktoren, die besonders die beiden Hauptfiguren zu Beginn ihres Lebens zum Außenseitertum bestimmen. Überschattet wird alles vom Selbstmord des Vaters/Großvaters, dessen Homosexualität noch gesetzlich kriminalisiert wurde. Trotzdem finden Helena und Tuomas nach und nach den Mut, ihr Leben so selbstbestimmt und mutig zu gestalten, wie es eben geht. Helena lässt ihren Vater und damit auch seine Haltung des Sich-Aufgebens zurück. Als Tuomas sich ihr schließlich als erste in der Familie offenbart, gibt sie ihm den unausgesprochenen Rat, der wohl der Kern des Buches ist: „Du hast deine schwache Stelle freigelegt wie ein Hund seine Kehle und hast Angst, dass ich meine Zähne hineinschlage. (…) Verwandle dich nie, weil ein anderer es will. Man muss nur sich selbst genügen, nicht den anderen. Und auch wenn nicht alle Geschichten Liebesgeschichten sind, sind sie nicht misslungen, vergiss das nicht.“ (S. 275 ff.)

Das alte Tolstoi‘sche Zitat kehrt sich im Verlauf ihrer beider Leben um – zwar sind alle auf ihre eigene Art unglücklich, aber in ihrem Unglück treten ihre Unterschiede in den Hintergrund. „In meinem Leben gibt es nichts, was nur einer verstehen könnte, der anders ist als die anderen“, resümiert Helena vor Tuomas, „In deinem wohl auch nicht.“ (S. 277) Während sich Tuomas und sein Partner nach einem Kind sehnen, treibt Helena immer wieder ab, aus Angst, der Mutterrolle nicht gerecht zu werden. „Du begreifst doch sicher, dass der Raum in dieser Wohnung, der das Kinderzimmer werden sollte, immer noch hallig und leer ist? Ich habe ihn mit meinen eigenen Entscheidungen möbliert und fühle mich dort wohl. Es geht im Leben nicht darum, glücklich zu sein.“ (S. 291f.) Aber auch ihr „normaler“ Exmann, der sich den Vaterwunsch schließlich mit einer anderen, sehenden Frau erfüllt, findet keine goldene Erfüllung darin: „Du erzählst den anderen, du wärst endlich ein richtiger Mann. Sie nicken und trinken bereitwillig das Bier, das du ihnen ausgibst. Du bist die Hilfsbedürftige los und bist nun ein ernst zu nehmender Vater, bildest eine neue Kernfamilie in der Gesellschaft. Vermehrst dich und füllst die Erde. Wenn du nach Hause gehst, kotzt du alles in den Rinnstein, alles außer deiner Verbitterung.“ (S. 290)

Das ist es vielleicht, was diesen Roman so besonders macht – es gibt kein Happy End, keine einfachen Lösungen oder endgültig zufriedenstellende Antworten. Gesellschaftliche Umstände wie gesetzliche und soziale Diskriminierung sind gut recherchiert und werden nicht beschönigt, dienen aber nicht zur Dramatisierung. Sie sind nur Teil des Hintergrunds der Figuren, deren Lebensgeschichten immer weiter gehen, immer wieder zeigen, dass die Wirklichkeit in ihren fröhlichen und grausamen Momenten doch nicht so trüb bleibt wie die Befürchtungen der Menschen, die ihr ausgesetzt sind. Die aus ihrer Einsamkeit nie ganz herausfinden und sich doch immer wieder begegnen können, im Dialog, in Gedanken oder nicht zuletzt in der Geschichte vom Gutshof Pieselfall.

Text: Franziska Kraushaar

Kinnunen, Tommi. Das Licht in deinen Augen. Penguin Verlag 2019, übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara
Kinnunen, Tommi. Lopotti. WSOY 2016
Tommi Kinnunen – WSOY: https://www.wsoy.fi/kirjailija/tommi-kinnunen
Hakutulos – Suomen kirjallisuuden käännökset – SKS (finlit.fi): http://dbgw.finlit.fi/kaannokset/lista.php?order=author&asc=1&lang=FIN

Titelbild: Frans Leivo auf Unsplash

Buchvorstellung: Terézia Mora – Alle Tage (2004)

Der 2004 erschienene Debütroman „Alle Tage“ von Terézia Mora handelt von Abel Nema, einem heimatlosen Sprachgenie. Geschrieben wurde der Roman auf Deutsch, da es sich bei Terézia Mora um eine Ungarndeutsche handelt.


Ein Mann aus einem Land, das es gar nicht mehr gibt – Das ist Abel Nema. „Eigentlich […] ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist“ (S. 13). Immer in schwarz gekleidet und wortkarg, auch wenn er zehn Sprachen zur Perfektion beherrscht. Hat man ihn überhaupt jemals in diesen Sprachen sprechen hören, wenn es nicht seiner Arbeit diente? Er wächst in einem Land auf, bei dem es sich vermutlich um Jugoslawien handelte. In der Nacht seiner Abiturfeier gesteht er seinem besten Freund seine Liebe – und stößt auf Ablehnung und Ekel. Nach einem Gasleck in einer Wohnung hat sich etwas verändert: Er kann sich plötzlich ohne Anstrengung jede Sprache aneignen, die er hört. Allerdings ist sein Geschmacks-, Geruchs- und Orientierungssinn verschwunden. Fliehend vor dem Krieg und der Zurückweisung seines ehemaligen Freundes, landet er irgendwann in einem anderen Land, bei dem es sich vermutlich um Deutschland handelt. Dort scheint zunächst alles gut zu verlaufen. Er findet Unterkunft bei einem anderen Emigranten, bekommt einen Sponsor für ein Studium aufgrund seines linguistischen Talents und lernt im Sprachlabor zehn Sprachen. Somit ist er um ein Vielfaches erfolgreicher als andere Emigranten, die sich mit Putzjobs und Musikauftritten über Wasser halten – oder auch nicht über Wasser halten und Obdachlosigkeit, Suizid und Gewalt erleben.
Nach einer Razzia zieht er zu einer weiteren Emigrantin, Kinga, die eine Band hat; jeden Abend wird getrunken und geraucht. Nur nicht von Abel, der inzwischen bemerkt hat, dass er nicht betrunken werden kann. Sein Studium und das Sprachlabor hat er derweil aufgegeben, schreibt aber noch an seiner Dissertation. Kinga stellt mit ihrem Charakter, der Wut, Lust, Verzweiflung und eigene Meinung frei ausdrückt, einen krassen Gegensatz zu dem reservierten Abel dar. Trotzdem, oder genau deswegen, ist sie in Abel verliebt. Er zieht danach noch zwei weitere Male um, einmal neben eine Fleischerei, einmal neben einen Sexclub. Irgendwann beginnt er, seinem zukünftigen Stiefsohn Omar Russisch beizubringen. Später wird ihm sein Laptop von einem Jungen geklaut. Nur darauf war seine unfertige Dissertation gespeichert.
In seiner bis dato letzten Wohnung fängt er an, in die „Klapsmühle“, den Sexclub in seiner Nachbarschaft zu gehen. Er beobachtet jedoch nur und beteiligt sich nicht an den Geschehnissen dort. In diesem Zeitraum lernt Mercedes ihn ein bisschen besser kennen und fragt ihn eines Tages, ob er eine Scheinehe zwecks seiner Aufenthaltsgenehmigung mit ihr eingehe wolle. Er nimmt an, bleibt aber im Laufe der Ehe weiterhin distanziert. Doch er und Omar, sein zehnjähriger Stiefsohn, kommen sich immer näher. Weitere Dinge geschehen: Kinga begeht Selbstmord und Abel nimmt aus der verlassenen Wohnung seines Nachbarn Amanita muscaria (Gewöhnlicher Fliegenpilz) ein und erlebt einen Drogenrausch, in dem er einige Erkenntnisse über sich selbst gewinnt. Nach diesem Rausch ist plötzlich seine Gabe weg: Er spricht plötzlich mit Akzent und wird nach einem halben Drink sofort betrunken. Auf dem Weg durch die Stadt wird er danach von ein paar Jungen zusammengeschlagen und stirbt fast. Durch ein dadurch ausgelöstes Hirntrauma
erleidet er eine Aphasie, also einen Verlust des Sprechvermögens. Er kann nur noch mit Anstrengung einfache Sätze der Landessprache bilden. Seitdem sagt er am liebsten „Es ist gut“.


Abel erlebt einiges in seinen Jahren in Westeuropa, z.B. eine Razzia, eine Scheinehe, viele Menschen, die ihn lieben. Aber liebt er zurück? Bemerkenswerterweise für einen Protagonisten trifft er selbst keine aktiven Entscheidungen, führt keine Gruppe an und scheint auch zu nichts eine Meinung zu haben. Er ist Kriegsdeserteur, initiiert nie selbst ein Gespräch und antwortet einsilbig auf Fragen. Und doch lieben ihn alle und helfen ihm, auch wenn er gar nicht danach fragt. Alle wollen das Geheimnis, das ihn scheinbar umhüllt, lüften. Aber dies ist wohl ein Geheimnis, was er auch vor sich selbst leugnet.
Dafür müsste er nämlich wohl erst wissen, wer er eigentlich selbst ist. Dabei kennt er nicht einmal seine eigene Nationalität. „Die Staaten, die euch festhielten mit eiserner Hand, haben euch hinausgespuckt in die Welt“ (S. 150). Ist er Kroate, Serbe, Bosnier oder doch Montenegriner? Wer kann das schon so genau sagen. Die Sprachen dieser Nationen variieren letztlich auch nur leicht.
Auch mit dem Lernen neuer Sprachen findet sich keine Erlösung, zeigt sich keine
Persönlichkeit. Abel spricht alle Sprachen akzentfrei, aber auch ohne jede persönliche Note. Wenn er sie denn einmal benutzt. Sein Nachname, Nema, bedeutet nämlich ‚der Stumme‘, denn obgleich er Sprachen beherrscht, benutzt er sie nie für ihren eigentlichen Zweck, die Kommunikation. Insgesamt eignet er sich viel an: zehn Sprachen, ein vertieftes Wissen über die Linguistik und all die Bereiche, in die sie hineingreift. Doch all das nutzte ihm nichts, die Sprache verlor er, seine Dissertation bekam auch niemand zu Gesicht. Ein weiterer Beweis für ihn als passive Person. Doch warum verhält er sich so? Hierzu möchte ich eine Textstelle zitieren, die sich auch auf der Rückseite des Buches befindet: „Jetzt und hier habe ich den
Frieden praktiziert, alle Tage, ja. Weil es möglich war. Und wenn der Preis dafür war, meine Geschichte, also meine Herkunft, also mich zu verleugnen, dann war ich mehr als bereit diesen zu zahlen. Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar. Guten und nicht so Guten gegenüber. Die Liebe war nur noch als Sehnsucht in mir. Ich hatte Glück, Fähigkeiten und Möglichkeiten, man kann nicht einmal sagen, ich hätte sie gänzlich vergeudet, trotzdem bin ich heute verloren. Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. […] Dass ich herkomme, wo ich herkomme. Dass passiert ist, was passiert ist.“ (S. 406)


Alles in allem kann ich das Buch allen ans Herz legen. Es hat einen ganz besonderen
Schreibstil, der zwar verwirren, aber auch begeistern kann. Die Abfolge der Kapitel ist nicht ganz chronologisch, weshalb ich es fast ein bisschen Schade finde, dass ich nicht genug Zeit hatte, das Buch ein zweites Mal zu lesen, um wirklich jede Kleinigkeit erfassen zu können. Als Leserin ergeht es mir fast genauso wie Abels Bekanntschaften: Man fängt an, für ihn Sympathie zu empfinden und mehr über ihn herausfinden zu wollen, auch wenn er bei weitem kein perfekter, vielleicht nicht einmal ein guter, Mensch ist. Doch genau das macht ihn wohl interessant und auch lesenswert.

Text: Talvikki Kosonen

Quellen:
Mora, Terézia. 2004. Alle Tage. München (Luchterhand Literaturverlag).

Titelbild: Photo by Clarissa Watson on Unsplash