Aktuelle Lage der Frauen in Ungarn

Auch im 21. Jahrhundert werden regelmäßig die weltweiten Rechte der Frau und Verstöße gegen diese diskutiert und auf sie aufmerksam gemacht. Ungarn stand in den letzten Jahren ebenfalls vermehrt auf Grund von sowohl offizieller Diskriminierung z. B. in Form von Gesetzen, als auch wegen inoffizieller Benachteiligungen von Frauen z. B. am Arbeitsplatz in Kritik. Doch sollte Ungarn als Mitglied der EU die rechtlichen Maßnahmen für die Gleichstellung nicht genauso umsetzen wie die anderen Staaten auch?

In Ungarn gelten laut dem Grundgesetz aus formaler Sicht die gleichen Rechte für Männer und Frauen. Doch wie bereits im letzten Blogbeitrag (LINK) erwähnt wurde, macht das Land seit Orbáns Politik mit seiner Fidesz-Regierung auf Grund von konservativen Wertevorherstellungen sogar Schritte, die im Bezug auf die Entwicklung der Frauenrechte als Rückschritte gehandelt werden können.

Durch verschiedene Eingriffe in Gesetze oder Kritik an vorhandener Gleichberechtigung der Frauen sowie interne Berichte von Betroffenen erweckte Ungarn die Aufmerksamkeit einiger Organisationen und auch die der gesamten Bevölkerung. In den letzten Jahren ließen sich an diversen Beispielen die Unterdrückung und die Einschränkungen der Frauen in Ungarn erkennen.

Im Bezug auf höhere Bildung sind in Ungarn die Frauen stärker als die Männer vertreten, der Anteil der Frauen an Hochschulen liegt bei ca. 54,55%. Somit sind Frauen in diesem Bereich etwas besser gebildet als Männer.

Doch genau diese “Überlegenheit” der Frauen im Bereich der Bildung oder auch Pink Education, wie sie genannt wurde (allein der Name vertritt ein sexistisches Klischee), wurde von dem ungarischen Rechnungshof im vergangenen Jahr scharf kritisiert. Denn aus dieser Situation könnten sich demografische Probleme bilden, gebildete Frauen hätten es schwerer, gleichgebildete Partner zu finden und wären kritischer bei der Partnerwahl, daraus resultiere eine erschwerte Gründung der Familien und dies würde die Geburtenrate gefährden, die bekanntlich ein wichtiger Kernbestandteil der Fidesz-Politik ist.

Der Rechnungshof befürchtet außerdem eine Benachteiligung der Männer im Bildungsbereich, die Frauen behinderten die Männer oder besser gesagt ihre Bildung. Als weitere Konsequenz könnten Männer psychische Probleme bekommen, natürlich auf Grund ihrer Benachteiligung.

Im Karriereverlauf haben Frauen allerdings schlechtere Chancen auf gute Positionen und sind somit wieder benachteiligt, dies wirft natürlich Fragen auf, wenn man die statistisch bessere Bildung der Frauen betrachtet. In Ungarn werden deutlich mehr Führungspositionen von Männern besetzt und auch bei dem Gehalt erkennt man keine Gleichberechtigung, die sogenannte GenderPayGap zeigt sich auch in Ungarn beständig. Zusätzlich sind Frauen in der Realität oftmals geschlechterspezifischer Diskriminierung am Arbeitsplatz und Arbeitsmarkt ausgesetzt, schwangere Frauen und Frauen, die nach der Geburt wieder arbeiten möchten, sind hiervon besonders betroffen.

“Magyarországon úgy diszkriminálják a nőket, hogy ők még csak észre sem veszik”, in die deutsche Sprache übersetzt bedeutet dies soviel wie “Frauen werden in Ungarn diskriminiert, ohne es zu merken”. Dieses Phänomen beschreibt die Wissenschaftsjournalistin Zsuzsanna Bal´azs in einem Artikel des Wissenschaftsmagazins Qubit. in 2018. Durch die sturen Geschlechterrollen nehmen die Frauen ihre Benachteiligung oftmals nicht wahr.

Eine weitere Einschränkung erhielten die ungarischen Frauen im letzten Jahr, als das Abtreibungsrecht von der Regierung deutlich verschärft wurde. Schwangere Frauen, die eine Abtreibung möchten oder diese in Betracht ziehen, sind seit dem 25. September 2022 nicht nur zu zwei Beratungsgesprächen verpflichtet, sondern benötigen auch eine ärztliche Bescheinigung, die bestätigt, dass sie ein Lebenszeichen von ihrem Embryo gehört haben (gemeint ist damit üblicherweise der Herzschlag des Fötus). Für Kritiker*innen verstärkt das neue Gesetz den Druck, der auf die betroffenen Frauen ausgeübt wird, zusätzlich werden diese nochmal mehr gedemütigt als vorher.

2020 weigerte sich die ungarische Regierung, die Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützt, zu ratifizieren und das, obwohl Ungarn die Konvention 2014 unterschrieben hatte. Die Gründe für diese Blockierung erklärte Viktor Orbán selbst: seiner Meinung nach unterstütze das Übereinkommen eine “Gender-Ideologie” und würde “illegale Migration” fördern.

Durch das Verbot der GenderStudies, das 2018 in Ungarn in Kraft trat, wurde schon vor fünf Jahren nicht nur die Aufklärung zu den Geschlechterverhältnissen zwischen Mann und Frau deutlich gebremst, sondern auch allgemein massiv in die Wissenschaftsfreiheit eingegriffen und gegen EU-Recht verstoßen.

Die Gleichstellungssituation in Ungarn wird nicht erst seit einigen Monaten diskutiert, bereits 2019 bemängelte der Menschenrechtskomissar des Europarats, nach einem Besuch im Land erkennbare Rückschritte bei den Frauenrechten und bei der Gleichstellung der Geschlechter.

Quellen:
Balázs, Zsuzsanna. Magyarországon úgy diszkriminálják a nőket, hogy ők még csak észre sem veszik. 2018. Qubit. https://qubit.hu/2018/05/18/magyarorszagon-ugy-diszkriminaljak-a-noket-hogy-ok-azt-meg-csak-eszre-sem-veszik
Bögre, Zsuzsanna. Frauen in Ungarn. OWEP 2/2002. 2022. https://www.owep.de/artikel/296-frauen-in-ungarn
Veyder-Malberg, Thyra. Emanzipation Adé, Testlabor Ungarn: Frauen zurück an den Herd!. 2022. mdr.de
https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ungarn-abtreibung-gender-emanzipation-frauenrechte-gleichstellung-100.html
https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/ungarn-2020
https://www.amnesty.org/en/documents/eur27/2378/2020/en/
https://www.amnesty.org/en/documents/eur27/2085/2020/en/
https://www.sueddeutsche.de/politik/ungarn-viktor-orban-universitaeten-1.5645752
https://www.spiegel.de/panorama/bildung/ungarn-rechnungshof-beklagt-hohen-frauenanteil-an-unis-a-c5dcde17-04ad-479e-8af8-e2ed635b7f7a?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ungarn-abtreibungen-101.html

Titelbild: Mika Baumeister auf Unsplash

Text: Liv Kallender, Praktikantin, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach

Frauenrechte in Ungarn

Auch in Ungarn bildeten sich im frühen 20. Jahrhundert die ersten Bewegungen für die Gleichstellung beider Geschlechter. Doch wie sehen die formalen Rechte einer ungarischen Frau heutzutage aus und wie beeinflusst die aktuelle Fidesz-Regierung diese?

Die ersten Bewegungen und das Wahlrecht

Die ersten Frauenrechtsbewegungen mussten in allen Staaten ihren Lauf nehmen, in Ungarn geschah ein großer Teil davon im Dezember 1904 mit der Gründung des Magyarországi Feministák Egyesülete (engl.: Association of Feminists of Hungary, kurz FE). Dies war ein kleiner, aber dynamischer Zusammenschluss, der Minderheitsrechte kritisierte und in der gesamten Bewegung eine wichtige Fraktion bildete. Eine nennenswerte ungarische Feministin, die schon früh für die weiblichen Rechte kämpfte, war Rosika Schwimmer (1877-1948).

In Ungarn wurden die ersten Schritte des Wahlrechts für Frauen im Jahre 1918 durch die Regierung Károlyi vollzogen. Durch diese trat das Volksgesetz Nummer 1 in Kraft, das zum ersten Mal in der ungarischen Geschichte beiden Geschlechtern gleiches aktives und passives Wahlrecht garantierte. Ein Jahr später weitete ein Wahlgesetz stufenweise das Wahlrecht der Frau aus, Frauen, die die ungarische Staatsbürgerschaft besaßen, über 24 Jahre alt waren und lesen und schreiben konnten, durften wählen. Doch die Voraussetzungen, die für die Frauen galten, waren wesentlich strenger als die der Männer, eine Wahlrechtsreform aus dem Jahr 1922 erhöhte das Wahlalter für Frauen auf über 30 und auch die Schulausbildung der Frauen wurde strenger gehandhabt (im Vergleich: Männer brauchten vier Jahre Grundschulausbildung und Frauen sechs Jahre um wählen zu dürfen). Zwei Jahre zuvor, 1920, wurde Margit Slachta (1884-1974) als erste Frau ins nationale Parlament gewählt.

1945 wurde in Ungarn das uneingeschränkte Wahlrecht für beide Geschlechter wiederhergestellt und 1948 durch die Errichtung der Volksrepublik Ungarn, wie wir es heute kennen, zu einem formalen Recht erklärt.

Die aktuellen Rechte und ihre Umsetzung

Das heutige Grundgesetz Ungarns besagt gleiches Recht für Männer und Frauen, garantiert die Menschenrechte für alle und gibt an, Chancengleichheit zu fördern sowie Maßnahmen zum Schutz für Minderheiten (also in gewissermaßen auch Frauen) zu vollziehen. Die politischen Rechte der Frau wurden aus dem UN-Übereinkommen aus dem Jahr 1953 übernommen.

Doch seit Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz das Land seit 2010 regiert, zeigen sich Abweichungen dieser eigentlich geltenden Rechte. Die Vorstellungen der Partei weisen eine eher konservative Geschlechterordnung sowie Familienpolitik vor.

Das wesentliche Ziel der Partei ist es, die Geburtenrate zu erhöhen. Die Rechte der Frauen werden hierbei untergeordnet, laut Orbán müsse sich die Familienpolitik auf die Mütter stützen. Er gibt stolz an, für die Familien zu investieren und tatsächlich fließen ca. 5% des Bruttoinlandsprodukt in die Förderung der Familie ein. Doch diese Unterstützung erhalten nur die Familienkonstellationen, die den Wertevorstellungen der Regierung entsprechen, also knapp zusammengefasst, heterosexuelle Ehepaare mit ehelichen Kindern.

Die Geburtenrate in Ungarn stieg seit Orbáns Amtsantritt 2010 tatsächlich leicht an, die Privilegien, die eine Familie von der Regierung bei vielen Kindern versprochen bekommt, scheinen teilweise zu funktionieren. Je schneller und mehr Kinder eine Frau bekommt, desto praktischer oder, besser gesagt, billiger wird es für die ungarischen Familien. Denn in Ungarn werden die Erlassung von Steuern und billigere Kredite für z. B. Immobilien einer Familie mit Kindern garantiert, bei mehr Kindern werden diese Vorteile stufenweise ausgeweitet. Von diesen Maßnahmen profitieren allerdings nur die reichen Familien.

Allgemein sollten sich die Frauen der eigenen Familie unterordnen. Dazu passen auch die Vorstellungen der ehemaligen Familienministerin Katalin Novák, die sie in einem Video (2020) schilderte (seit 2022 ist sie Staatspräsidentin von Ungarn). Laut ihr müssten sich Frauen nicht immer mit Männern messen und ein kontinuierliches Streben besitzen, die gleichen Positionen oder Bezahlungen zu erhalten. Frauen sollten auf keinen Fall ihre Privilegien wegen eines für sie “falsch verstandenen Kampfes für Emanzipation” (Veyder-Malberg, mdr.de) aufgeben. Eine starke und erfolgreiche Frau übernehme Verantwortung und verzichte zu Gunsten ihrer Familie.

Diese Vorstellungen zur Rolle der Frau spiegeln sich auch in der aktuellen Regierung wieder. Der Frauenanteil in der ungarischen Politik ist gering, man könnte von einer Unterrepräsentierung der Frauen sprechen. Das ungarische Parlament weist einen Frauenanteil von 13% vor, dies ist einer der niedrigsten Prozentanteile, wenn man die Industrieländer betrachtet. In Orbáns Kabinett selbst sitzt die einzige Frau (Justizministerin Judit Varga) 14 Männern gegenüber.

Beim Gleichstellungsindex der EU, der verschiedene Indikatoren wie z. B. Bildung betrachtet, landete Ungarn auf dem vorletzten Platz.

Quellen:
Szapor, Judith. Hungarian Women´s Activism in the Wake of the First World War, From Rights to Revanche. 2018. New York. (Bloomsbury)
Veyder-Malberg, Thyra. Emanzipation Adé, Testlabor Ungarn: Frauen zurück an den Herd!. 2022. mdr.de (https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ungarn-abtreibung-gender-emanzipation-frauenrechte-gleichstellung-100.html)
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenwahlrecht_in_Ostmittel-_und_Osteuropa
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenwahlrecht_in_Europa#Antifeminismus
https://emberijogok.kormany.hu/nok

Titelbild: Zoe VandeWater auf Unsplash

Text: Liv Kallender, Praktikantin, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach

Sándor Petőfi – eine Kraft der Märzrevolution

Ungarns bedeutender Dichter Sándor Petőfi (1823-1849) prägte nicht nur die ungarische Literatur, sondern spielte auch eine wichtige Rolle beim Ausbruch der ungarischen Revolution im März 1848. Er machte sich somit nicht nur als bekannter Schriftsteller, sondern auch als Freiheitskämpfer einen Namen.

Petőfi stammt aus Ungarn, wächst im Genuss guter Bildung auf, doch er schlägt einen anderen Weg, ohne Schulabschluss, als Dichter ein. Durch seinen Umzug nach Pest im Jahre 1844 verspricht er sich eine steigende Karriere als Dichter, die ihm mit Hilfe eines anderen Journalisten folglich gelang. In den darauffolgenden Jahren baute er seinen Erfolg aus. Seine Werke und seine sowohl thematischen als auch stilistischen Markenzeichen zeugen auch heute noch von großer Bekanntheit. Weitere Informationen zu Sándor Petőfis Wirken erfährt man in unserem letzten Blogbeitrag.

Trotz Petőfis höherem Bekanntheitsgrad als Dichter, nimmt seine Persönlichkeit, in Gedenken der Märzrevolution, bei dessen Anfängen und auch in den darauffolgenden Jahren, einen wichtigen Platz ein.

Historisch betrachtet befand sich Europa durch den Ausruf der zweiten französischen Republik am 24. Februar 1848 in Aufbruchsstimmung. Die bürgerlichdemokratische Revolutionswelle erfasste auch das Königreich Ungarn, Petőfis Heimatland.
Diese Welle traf durch die angespannte Lage im Kaisertum Österreich (Ungarn forderte den Ausbau der nationalen Unabhängigkeit) in Ungarn schnell auf Befürworter. Gewaltlose Massendemonstrationen in Pest und Buda ereigneten sich am 15. März, das sogenannte ZwölfPunkteProgramm der ungarischen Revolutionäre wurde von dem kaiserlichen Gouverneur akzeptiert und landesweite Aufstände brachen aus. Daraus resultierte der Ausruf einer neuen Regierung Ungarns, mit Lajos Batthyány als Ministerpräsidenten. Seine Regierung verabschiedete anschließend die sogenannten März– oder Aprilgesetze, die Ungarns Staatsform reformierten: Ungarn wurde eine konstitutionelle Monarchie.

Die ungarischen Revolutionäre forderten in ihrem Programm, das zur Freiheit der Bevölkerung und der Demokratisierung des Landes beitragen sollten, unter anderem die Pressefreiheit sowie die Aufhebung der geltenden Zensur und der Frondienste.

Unter den Revolutionären befand sich auch Sándor Petőfi. Er war vor allem am Ausbruch der Demonstrationen am 15. März 1848 beteiligt und ist somit einer der wichtigsten Repräsentanten, wenn man die Anfänge der ungarischen Revolution betrachtet.

Zur Zeit diesen Ausbruchs agierte Petőfi als einer der Anführer der radikalrevolutionären intellektuellen Jugend. Diese berief sich ebenfalls auf das ZwölfPunkteProgramm, das er gemeinsam mit anderen Revolutionären bei dem Versuch der Mobilmachung von Studenten proklamierte. Aus dieser Mobilmachung folgte der bekannte Aufstand für die Revolution.

Sándor Petőfis Gedicht Nationallied (Nemzeti dal) wurde durch seine spontane Darbietung anlässlich des Aufstands zu der Hymne der Revolutionäre (Talpra magyar, hí a haza!; zu deutsch: Auf, die Heimat ruft, Magyaren!). Es gelang durch den Zwang des Drucks des Gedichts, den die Revolutionäre auf die Druckerpresse ausübten, unzensiert in den Umlauf. Das Gedicht stößt bei der Bevölkerung auf Begeisterung, daher wurde es am selben Tag als Zeichen des Wandels bei der Volksversammlung erneut vorgetragen.

In den darauffolgenden Jahren wurde Petőfi Mitglied zahlreicher politischer Delegationen und Kommissionen. Er war Kapitän der Nationalgarde von Pest und schloss sich dem sogenannten Gleichheitsklub (Egyenlőségi Társulat), dem radikalsten Flügel der Revolution an. Im Oktober 1848 wurde er Hauptmann in Debrecen und ab 1849 diente er dem polnischen General Józef Bem in Siebenbürgen.

Sándor Petőfi fiel 1849 bei der Schlacht von Schäßburg, sein Grab ist bis heute unbekannt.

Petőfi zeigte zu seinen Lebzeiten politisches Engagement, sein Leben war eng mit dem Kampf um die Freiheit verbunden. Seine revolutionäre Seite erkennt man auch in seinen Werken wieder, politische Aspekte prägten diese in seiner gesamten schriftstellerischen Tätigkeit. Von Beginn an forderte er die Unabhängigkeit des ungarischen Nationalstaates.

Quellen:
Koch, Peter. Revolutionen in Ungarn. Umbruch 1989/90 und frühere Bewegungen. URL: https://osteuropa.lpb-bw.de/revolution-in-ungarn, abgerufen am 15.03.2023.
László Révész. Petőfi, Sándor. In: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 447-449 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1529, abgerufen am 15.03.2023.
Schlosser, Christine. 2009. Zwei Jahrzehnte ungarische Literatur in deutscher Übersetzung. 1988-2008. Eine kommentierte Bibliographie. Budapest.
Wollstein, Günther. 2010. Märzrevolution und Liberalisierung. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/revolution-von-1848-265/9875/maerzrevolution-und-liberalisierung/, abgerufen am 15.03.2023.
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi, abgerufen am 15.03.2023.

Bildquellen:
Titelbild: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_Nemzeti_M%C3%BAzeum.jpg
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_S%C3%A1ndor.jpg
Nationallied: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi#/media/File:Nemzetidal.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – seine Wirkung als Dichter

Sein 200. Geburtstag, welcher sich am 1. Januar 2023 ereignete, bietet eine gute Gelegenheit den Dichter Ungarns zu betrachten, der die Zukunft entscheidend veränderte und die Vergangenheit nach seinem Bild umformte.

Sándor Petőfi (1823-1849) weist eine dokumentierbare Erfolgsgeschichte vor, die einzigartig für die ungarische Literatur ist. Diese zeugt allerdings auch von zahlreichen Verstößen gegen damalige literarische, gesellschaftliche und politische Normen.

Petőfi stammt aus einer Ungarisch sprechenden Familie slowakischen Ursprungs, die an einem lutherischen Glauben festhielt. Da seine Eltern seine schulische Ausbildung förderten, hatte er gute Chancen auf eine Karriere und damit auch auf soziale Mobilität, obwohl er aus keiner Adelsfamilie stammte. Doch als er 1842 bewusst das Gymnasium ohne schulischen Abschluss verließ, verzichtete er auf diese von seinen Eltern gebotene Möglichkeit.

Seine eigene Identitätsbildung wurde allerdings durch kollektive Adelsrechte, welche er durch seinen Vater erlangte (dieser erwarb einen Landsitz), geprägt. Petőfi war zwar nicht adelig gewesen, sondern gehörte lediglich einem gewissen Stand an, bis sein Vater seine Ländereien verlor, doch diese Zugehörigkeit hatte ihre Grenzen, die beispielsweise auch ein alter Mitschüler schilderte, Petőfi sei ein aufdringlicher, slowakischer und lutherischer Schüler.

Seine politische Karriere scheiterte bereits 1848 bei den Wahlen zum Parlamentsabgeordneten. Dort versuchte er, seine Wähler mit einem Wir-Bewusstsein zu überzeugen, doch dies blieb erfolgslos.

Sein Erfolg als Dichter war im Einklang mit dem damaligen politischen und gesellschaftlichen Wandel des Landes, es bildeten sich Tendenzen zur Demokratisierung. Die Kriterien zu der Zugehörigkeit einer Gesellschaft wandelten sich, ein neues Kulturverständnis und der Begriff der Volkskultur entstand. Somit bekam auch die literarische Kunst eine neue Bedeutung und eine Art Presselandschaft wurde in Ungarn gebildet.

Dank diesem Wandel erlangten auch Dichter*innen und Schriftsteller*innen einen neuen Status. Dies half auch Petőfi, als er in den 1840ern seinen Auftritt als Dichter begann. Um diese Karriere zu fördern und auszubauen, verließ er 1844 seinen damaligen Wohnort Debrecen und zog nach Pest, dort erhoffte er sich einen Aufschwung als Dichter.

Durch diese weitere bewusste Entscheidung schaffte der Dichter es noch zu Lebzeiten, sich eine eigene Marke zu erstellen. Er brachte eine Art volkstümliche Kultur mit, diese spielte auch in seinen späteren Gedichten eine wichtige Rolle.

Mit Hilfe von Imre Vahot (dieser war ein ungarischer Schriftsteller und in Besitz einer eigenen Zeitschrift) gelang Petőfi die Erstellung eines öffentlichen Bildes. Imre Vahot kaufte die Rechte seiner Gedichte, stellte ihn in der Öffentlichkeit als Naturgenie dar, und prägte somit seine öffentliche Präsenz und Wirkung. Durch die Entwicklung einer Art Markenstrategie und die publike Anpassung Petőfis gelang es tatsächlich seinen Erfolg auf landesweiter Ebene auszubauen.

Auch zu seiner Persönlichkeit gab es geteilte Meinungen. Konservative Kritiker*innen sahen in ihm Entwürdigung der Dichtung, doch aus Sicht seiner Freunde brachte er frischen Wind und belebte die damalige Literatur.

Ein interessanter Fakt zu seinen Anfängen als Dichter betrifft seine erste Leserschaft. Denn obwohl Petőfi eine volkstümliche Stimme war, bestand diese nicht aus dem einfachen, ungebildeten Volk, sondern aus der adelig- bürgerlichen Schicht, vermehrt Frauen.

Sándor Petőfi besaß sowohl als eigene Persönlichkeit als auch als Stimme hinter seinen Dichtungen viele Markenzeichen. Immer wieder zeugte seine Poesie von Verständlichkeit, seine Texte benötigten keine Interpretationen, was er sagte, wurde verstanden. Für ihn war es wichtig, dass das Publikum seine Werke verstehen und aufnehmen kann, die Einhaltung der Regeln der damaligen Poesie standen für ihn nur an zweiter Stelle. Er wirkte durch diesen Aspekt und durch seine demokratisierende Sprache vielmehr als romantisches Genie. Sein Mythos beinhaltete auch das Grundprinzip des Nationalismus.

Die bereits genannte Volkstümlichkeit war eines seiner wichtigsten Markenzeichen, die damalig vorhandenen Mittel der ungarischen Literatur überführte er ebenfalls in diese. Auch die dazugehörige Volkssprache spielte in seinen späteren Werken eine Rolle. Für ihn war sie die Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung. Ein Beispiel für diese Akzente findet man in seinem Werk Held János.

Die Freiheit und seine dazugehörigen Ideologien prägten seine Werke ebenfalls, er zeigte diese ganz offen, der Begriff der Freiheit war für ihn die Grundlage des Lebens und der Politik. Aber auch der Individualismus war hiermit verbunden, sein Gebot der Freiheitsideologie besagt, dass das Individuum über allem stehe.

Den Aspekt der Politik baute er auf eine natürliche Art und Weise in seine Lebensweise, Weltanschauung und Dichtung ein. Sein offen erkennbares politisches Denken wurde in den letzten Jahrzehnten oftmals debattiert, allerdings ohne ein aussagekräftiges Ergebnis.

Petőfis Bekanntheit erlang ein individuelles Ausmaß, er wurde in gewissermaßen zur Symbolfigur des Demokratisierungsprozesses Ungarns, die selber aus dem Volk stammte.

Die lebendige Sprachweise, die Leidenschaft und seine persönliche Haltung verliehen seinen Dichtungen einen individuellen Touch, dadurch hoben diese sich, trotz ähnlichen Thematiken, von den Werken seiner Zeitgenossen ab.

Quellen:
E. Csorba, Csilla (2015): A Petőfi-dagerrotípia. Miért azt látjuk, amit látunk? Rubicon 2015/7. 58-63.
Fekete, Sándor (1977): Így élt a szabadságharc költője
Margócsy, István (1998): A szabad elvű Petőfi. Holmi, 1998/3. 309-322.
Margócsy, István (2003): “…ikercsillagok, egymás kiegészítői…” Petőfi és Arany kettős kultusza és kettős kanonizációja. ItK, 2003/4-5. 442-469.
Milbacher, Róbert (2023): Petőfi, a normaszegő. Élet és Irodalom, 2023/7, 13.
Pesti, Brigitta: Einführung in die ungarische Literaturgeschichte I. Ungarische Literatur von ihren Anfängen bis zur beginnenden Moderne
Szilágyi, Márton (2015): Petőfi Sándor és a polgári létezés lehetőségei. Rubicon 2015/7. 14-19.
Szolláth, Dávid (2004): A kultuszkutatás két tendenciája. In: Buksz, 2004/3. 232-240.

Präsentationsskript des Vortrags “Sándor Petőfi – Entstehung einer Kultmarke” von PhD Judit Molnár, Finnisch-Ugrisches Seminar der Georg-August-Universität Göttingen (2023)

Bildquellen:
Titelbild: Digital Content Writers India auf Unsplash
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Orlai-petofi1.jpg
Kokarde: Hungarian cockade von Khalai via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magyar_kok%C3%A1rda.png (CC BY-SA 3.0)

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Happy Birthday, Himnusz!

Eine Hymne, gerade eine Nationalhymne, das ist eigentlich mehr als Musik. Sie ist zugleich auch immer ein Teil von Identität, ein Bekenntnis und eine Zugehörigkeit. Es gibt schmetternde, kämpferische, eher sanfte, nachdenkliche, mal schnell, mal langsam, aber immer wollen Hymen Bekenntnis ablegen, Bekenntnis zum König („God save the King“ oder „Gott erhalte Franz den Kaiser“) oder zur Heimatliebe, wie die Norwegische schon im Titel mit „Ja, vi elsker dette landet“ („Ja wir lieben dieses Land“) verkündet. Manche Hymnen künden vom eigenem Land als einem gesegneten. Die Ungarische erbittet erst den Segen Gottes: „Isten, áldd meg a magyart.“ („Herr, Segne reich den Ungarn“) Zwar wurde der Text des Liedes bereits am 23. Januar 1823 im Dorf Szatmárcseke von Ferenc Kölcsey vollendet, aber erstmals veröffentlicht wurde er in der Literaturzeitschrift Aurora des Dichters Károly Kisfaludy 1828, damals noch ohne den Untertitel „A magyar nép zivataros századaiból“ („Aus den stürmischen Jahrhunderten des Ungarischen Volkes“), der erst in einer Textsammlung des Autors aus dem Jahr 1832 auftaucht. Die Tatsache, dass der Untertitel zunächst fehlte, wurde auf die in der österreichischen Monarchie allgemein vorherrschenden Zensur zurückgeführt und der Verweis auf die Vergangenheit sollte den Zensoren als Ablenkung und Beschwichtigung dienen. Diese These kann jedoch dadurch widerlegt werden, dass der Text zunächst weder 1828, noch 1832 große allgemeine Beachtung fand.
Durchgängig anzuhören ist dem Text die Anrufung an den lieben Gott, der den Ungarn verzeihen möge, für die Sünden der Vergangenheit.

[…]
Őseinket felhozád
Kárpát szent bércére
Hajh, de bűneink miatt
Gyúlt harag kebledben,
S elsújtád villamidat
Dörgő fellegedben,

[…]
Szánd meg Isten a magyart
Kit vészek hányának,
Nyújts feléje védő kart
Tengerén kínjának.
Bal sors akit régen tép,
Hozz rá víg esztendőt,
Megbűnhődte már e nép
A múltat s jövendőt!

[…]
Du hast unsere Vorfahren
Zu dem heiligen Karpatengipfel gebracht
Doch wegen unserer Sünden
Sammelte sich Zorn in deiner Brust
Und deine Blitze trafen uns
Aus deinen donnernden Wolken,

[…]
Hab’ Mitleid, Herr, mit dem Ungarn,
Den die Gefahren schütteln,
Beschütze ihn mit deiner Hand,
Im Meer der Qualen.
Denen die schon lange vom Schicksal nicht
verschont,
Bring ihnen eine bessere Zeit.
Denn dies Volk hat schon gebüßt
Für Vergangenes und Kommendes.

Doch auch ein „Klassiker“ der Nationalhymnen taucht im Himnusz auf: Nämlich das Anpreisen der schönen Landschaft und die Markierung wichtiger geographischer Punkte, die als national bedeutend angesehen werden. In obiger zweiter Strophe war bereits von den Kapartengipfeln die Rede. Auch Getränke tauchen schließlich gelegentlich in Hymnen auf, wie z. B. der „deutsche Wein“ im „Lied der Deutschen“ Die Tokaj und ihr Wein dürfen da auf keinen Fall fehlen! Ihm wird in der dritten Strophe Ehre erwiesen:

Értünk Kunság mezein
Ért kalászt lengettél,
Tokaj szőlővesszein
Nektárt csepegtettél.

[…]

Für uns auf den Kunság-Feldern
Wiegt sich das reife Getreide,
Von den Tokajer Hängen
Lässt du Nektar tropfen.

[…]

Die bildliche Geschichte und der überzeitliche religiöse Bezug tragen mit dazu bei, die Hymne zu vielfältigen Gelegenheiten, egal ob Gottesdienst oder Silvester, singbar zu machen. Die Musik zum Text wurde von Ferenc Erkel 1844 komponiert. Dieser gilt als Schöpfer der ungarischen Nationaloper und dies obwohl er nicht ungarischer Muttersprachler war. Den Einfluss französischer Opernkomponisten und Wagners auf seinen Stil ist auch dem „Himnusz“ anzuhören. Die Hymne beansprucht immerhin einen Stimmumfang von anderthalb Oktaven und ist daher nicht
leicht zu singen. Genauso an eine Oper erinnert der Aufbau. In einfacher Dur-Melodie gehalten, steigert sie sich zum Mittelteil hin und verklingt in sanftem Pianissimo. Aufgeführt als Sieger eines Preisausschreibens zur Vertonung des Gedichts von Körcsely wurde das Stück erstmals am 2. Juli 1844. Erstmals angestimmt wurde der Gesang der Hymne zu dem ihm zugedachten Stück in den Zeiten der Revolution 1848. Dieses Lied hatte sich durchzusetzen gegen den Widerstand, sogar von höchster Stelle. Kaiser Franz Joseph I. verweigerte einem Gesetz, welches sie offiziell als Hymne Ungarns anerkennen sollte, im Jahre 1903 die Unterschrift.

Während in anderen Ländern mit wechselhafter Geschichte und wechselnden politischen Systemen die Nationalhymnen und die Texte munter getauscht wurden, widersetzte sich der Himnusz auch den Ersetzungsversuchen der kommunistischen Zeit. Damals beauftragte man in den 1950er-Jahren den Musikwissenschaftler und Komponisten Zoltán Kodály mit der Komposition einer neuen Hymne, da insbesondere der religiöse Kontext, der bereits in der ersten Zeile zum Ausdruck kommt, den damaligen kommunistischen Machthabern missfiel. Kodály soll den Auftrag aber mit den Worten „Wieso die alte ist doch gut?“ brüsk abgelehnt haben. So behielt Ungarn seine Hymne durchgehend bis heute. Anlässlich des 200. Geburtstages der Hymne wurde zahlreiches Originalmaterial und Wissenswertes rund um die Hymne neu zusammengetragen unter https://www.magyarhimnusz.hu/

Aus Anlass dieses Geburtstages wird seit 1989 alljährlich in Ungarn der Tag der Ungarischen Kultur begangen. „Dieser Tag soll uns daran erinnern, dass wir auf ein tausendjähriges Erbe zurückblicken können und dass wir auf vieles stolz sein können, da diese Nation der Kultur Europas und der Welt viel gegeben hat. Es handelt sich um ein Erbe, das erhalten und verwaltet werden kann und das auch zur Lösung der heutigen Probleme beitragen kann.“ schrieb Pianist Árpád Fasang im Jahr 1985, nachdem er den Gedenktag „Tag der Ungarischen Kultur“ initiiert hatte.

Auch die Finnougristik in Göttingen gratuliert herzlich! Happy Birthday Himnusz!

Text: Alexander Paul Freyer

Titelbild: https://de.wikipedia.org/wiki/Himnusz#/media/Datei:Himnusz.jpg, gemeinfrei

Quellen:
Ulrich Ragozat: Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon., Herder-Verlag, Freiburg, 1982 (S.251-254)
János, Kenyeres: “Manifestations of Hungarian Identity in Literature.”, in: Hungarian Cultural Studies. e-Journal of the American Hungarian Educators Association, Volume 12, 2019
Daniel Vargha: Tag der Ungarischen Kultur: „Die fast 200 Jahre alte Hymne, die erst vor 33 Jahren offiziell wurde“, abgerufen unter: https://ungarnheute.hu/news/tag-der-ungarischen-kultur-die-fast-200-jahre-alte-hymne-die-erst-vor-33-jahren-offiziell-wurde-76435/
https://www.magyarhimnusz.hu/

Hinter der Tür: Die Kunst der Umsetzung – Teil II: Oder doch das amerikanische Happy End?

In der Literaturadaption Hinter der Tür überlässt István Szabó nichts dem Zufall. Mit seinem wörtlich genommenen roten Faden verfolgt der Regisseur dementsprechend dem Hauptthema des Buches, der Liebe: rotes Feuer, rotes Blut, eine rote Mütze und rote Leuchte. Um den Verrat besonders hervorzuheben, dienen zur Veranschaulichung sowohl Detailaufnahmen als auch Geräusch- und Musikuntermalungen. Neben der Kamera visualisiert zudem der Schnitt und die Montage István Szabós Interpretation der Geschichte. Der harte Schnittwechsel imitiert das episodenartige Erzählen, Ab- und Aufblenden rhythmisieren den Film.

Weitere Leitmotive wie der Wind und die Stille symbolisieren die berüchtigte „Ruhe vor dem Sturm“ (TÜR 100). Als Magda und Évike am Ende bei stürmischen Regen auf dem Friedhof stehen und um Verzeihung bitten, reißt kurz darauf der Himmel auf. Aufgrund dessen könnte der Eindruck entstehen, dass sich hier der Kreis schließt und für Magda die Geschichte doch noch ein gutes Ende nimmt. Das berühmte Happy End. Jedoch sei es nicht Magda Szabós Absicht gewesen, nach ihrem schriftlichen Geständnis auf Erlösung zu hoffen. Deshalb wird ihr anfänglich beschriebener Traum auch am Ende wiederholt: „Immer träume ich ein und dasselbe. […] Der Schlüssel dreht sich im Schloß. Doch ich bemühe mich vergebens“ (TÜR 303).

István Szabó schafft es durch sein Ende, ein weiteres Thema des Romans zu illustrieren: Den Glauben an Gott und das Jenseits. Der Himmel öffnet sich nicht, weil Magda von ihrer Schuld erlöst werden soll, sondern um abermals ihre Erkenntnis zu illustrieren. Emerenc verspottet Magda für ihre „einwöchige Religiösität“ (TÜR 182) und hegt laut Magda anscheinend „eine leidenschaftliche Feindseligkeit“ (TÜR 30) gegenüber Gott. Und obwohl Emerenc es leugnet, ehrt sie „Gott durch ihre Taten“ (TÜR 179). Für Magda wird Emerencens vollkommene Gläubigkeit erst am Totenbett bewusst. „Sie glaubte also doch ans Jenseits“ (TÜR 282), äußert Magda in ihren Gedanken, als Emerenc in ihrer Enttäuschung davon redet, dass sie über Magda gewacht hätte, hätte sie sie einfach sterben lassen. Doch jetzt wäre es zu spät.

Dass der Regisseur ein so eindeutiges Ende von einer fortwährenden Schuld ins Positive wandeln würde, erscheint dem Publikum als unwahrscheinlich. Doch handelt es sich um Szabós Interpretation und sein Wille der Umsetzung von Farbgebung, Licht und Mimik. Bereits auf der Filmhochschule lernt er von seinem Lehrer Félix Máriássy die künstlerische Disziplin der Regie kennen.[1] Die wohl wichtigste Frage, die ihn fortan begleitet, lautet: „[W]arum das oder jenes, warum so oder so?“[2]. Im Zuge dessen wird für Szabó erstmals die Unendlichkeit der filmischen Gestaltung vor Augen geführt. Entgegen der Annahme, dass der Film zu sehr von Hintergrund, Gegenständen, Licht und Farbe beeinflusst wird, um wie im literarischen Text, Dinge und Figuren detailliert und kraftvoll in Szene setzen zu können, schafft es Szabó mit seiner Gestaltung dem Vorurteil entgegenzuwirken.

Mit seiner Adaption gelingt es István Szabó das Anschauen eines Films aktiv zu gestalten und sich der Annahme, der Film sei aufgrund vorgegebener Bilder und Töne rein passiv, entgegenzustellen. Angesicht der literarischen Visualisierung geht das Publikum beim Anschauen von „Hinter der Tür“ wie bei der Rezeption eines Schrifttextes vor.[3] Um seiner eigenen Adaption gerecht zu werden, sind für Szabó insbesondere „die Großaufnahme […] wichtig und künstlerisch die Schauspieler“[4]. Des Weiteren herrschen grundsätzlich minimale Gestaltungstechniken für die Erzählung vor. Im Gegensatz zu einer Abwertung des Begriffs „einfach“, definiert Szabó: „Einfach“ hat nichts zu tun mit „primitiv“, „einfach“ heißt, das, was man erzählen möchte, dicht und klar zu zeigen“[5]. Aufgrund seiner „dicht und klar“[6] erzählten Gestaltung, treten besonders Raum, Licht, Charaktere und Musik in den Vordergrund. In ihrer Gestaltung liegen sie ebenso einer Interpretation des Regisseurs zugrunde, wie der Schrifttext der Autorin. Wie bei einem Buch offenbart sich die Auflösung eines Films für die einen erst nach dem zweiten oder dritten Mal Lesen beziehungsweise Anschauen, für andere wiederum gar nicht. Mit dem Anschauen eines Films interpretiert das Publikum nun die Interpretation des Regisseurs. Die Verkettung deutet bereits auf eine unmögliche Einigkeit hin.

Abschließend ist zu sagen, dass der Film ebenso wie die Literatur und Malerei eine eigenständige und erwachsene Kunstform repräsentiert. Ob das Publikum sich jemals in einer Interpretation und dem einhergehenden Kunstgedanken einigt, gleicht einer utopischen Vorstellung. Ohnehin besitzt István Szabó oftmals den Eindruck, dass die Zuschauer ihn nicht richtig verstehen und er nicht klar genug in seiner Gestaltung ist. Zwar ist es sein Wunsch, für alle präzise zu sein. Doch: „[M]anchmal führt mich […] Klarheit und Deutlichkeit in eine Richtung, die nicht wirklich gut ist. […] Ein Kunstwerk muss immer Geheimnisse haben.“[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Eric TERRADE auf Unsplash


[1] Vgl. John Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe (eBook), New York 2014, Kap. 2, Abs. 4.
[2] István Karcsai Kulcsár: István Szábo, Düsseldorf 1978, S. 9.
[3] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10.
[4] Sandra Theiß: Taking Sides – Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 325.
[5] Ebd., S.323f.
[6] Ebd., S.323f.
[7] Ebd., S. 327.

Hinter der Tür: Die Kunst der Umsetzung – Teil I: Der Regisseur als Autor

2011 wird der Roman Hinter der Tür[1] in einer deutsch-ungarischen Koproduktion unter der Regie von István Szabó, der ebenfalls mit seiner Co-Autorin Andrea Vészits das Drehbuch schreibt, adaptiert. Die Kameraführung des 95-minütigen Dramas übernimmt nicht der an der Seite Szabós bekannte Lajos Koltai, sondern erstmals der mehrfach ausgezeichnete Kameramann Elemér Ragályi.[2] In seiner Literaturadaption Hinter der Tür (Originalfilmtitel: The Door) arbeitet István Szabó die Beziehung zwischen Magda (Martina Gedeck) und Emerenc (Helen Mirren) aus, die aufgrund von Herkunft und Lebensumstände jeweils ihre eigenen Konventionen ausleben. Als Emerenc bei Magda als Haushaltshilfe anfängt, entsteht eine ambivalente Beziehung, die von einem stetigen Wechsel von Fürsorge und Zurückweisungen, von Liebe und Schuld geprägt ist. Die größte Grenze ist jedoch Emerencens Haus.[3]

Szabó entscheidet sich bei seiner Adaptionsart sowohl für die „Illustration“ als auch für die „interpretierende Transformation“. Neben der illustrierten Übernahme von Figurenkonstellation, Handlung sowie zahlreiche Dialoge, interpretiert Szabó zunächst das Geschriebene, um es dann in ein neues Zeichensystem zu setzen. Ziel ist es, mit seiner Interpretation seine Erfahrungen, was er gesehen und erlebt hat, weiterzugeben.[4] So lautet seine Devise: „Wenn ich nichts zu sagen habe, kann ich keine Filme machen“.[5]

Szabós wesentliche Regieambition besteht darin, „Emotionen und Gedanken, die ganz plötzlich entstehen, auf der Leinwand sichtbar zu machen“.[6] Zunächst ermöglicht er durch die Normalsicht eine direkte Teilhabe des Publikums am Geschehen. Zudem visualisiert die auf Augenhöhe konzipierte Einstellung die ebenbürtige Stärke beider Hauptprotagonistinnen. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren werden die jeweiligen Reaktionen gleichermaßen gegenübergestellt. Um die Emotionen und Gefühlsregungen nochmals hervorzuheben, dominieren Nah- und Großaufnahmen. Mittels langsamer Kameraschwenks und langem Verharren auf den Gesichtern wird somit die Mimik zum Haupterzähler.

Durchaus lässt sich eine filmische Umsetzung der subjektiven Meinung und Innenwahrnehmung der Ich-Erzählerin schwierig gestalten. Die Autorin erzählt ihre Geschichte aus der Retrospektive und verfügt daher über mehr Informationen, um ihre Schuld verarbeiten zu können. Aufgrund dessen ergibt sich die Möglichkeit von einwerfenden Kommentaren, die ihr Verhalten entschuldigen oder ihre Schuld deutlich hervorhebt: „Ich sagte mir, dieses schreckliche Unbehagen und die unerträgliche Spannung seien Lampenfieber, dabei war es nur mein Schuldbewußtsein“ (TÜR 219). Um Magdas Innenwahrnehmung auffassen zu können, lässt Szabó diese mittels anderer Figuren aussprechen. Beispielsweise durch den Ehemann Tibor, der durch seine Funktion als Magdas Sprechrohr im Gegensatz zum Buch als dritter Hauptcharakter fungiert. Neben dem Voice-Over und der subjektiven Kamera wird für die Illustrierung von Magdas Gedanken eine weitere Technik, die des Mindscreens, verwendet. Magda bietet sich zum Ende hin die Möglichkeit, Emerenc die Wahrheit zu beichten. Anstatt dessen entscheidet sich Magda für die Lüge. Darauf wird parallel zu ihrem zweiten Verrat ihre Vorstellung, wie es hätte richtig ablaufen müssen, illustriert. Mittels dieser Einstellung unterstreicht der Regisseur das Fehlverhalten der Autorin.

Szabós Gestaltungstechniken, von Farbfiltern über Kameraführung und -schnitt bis hin zur Musikuntermalung entsprechen einer unwillkürlichen Funktion. Nichts ist dem Zufall überlassen. Unter anderem der Visualisierung von Magdas Wahrnehmung: „[B]loß bemerkte ich wieder einmal nicht, daß sich düstere Wolken am Horizont zusammenzogen, daß es die Ruhe vor dem Sturm war“ (TÜR 100). Bereits im Intro wird auf diese Wahrnehmung Bezug genommen. Dramatisch aufziehende dunkelblaue Gewitterwolken werden kurzzeitig von Emerencens Erscheinung unterbrochen. Gezeigt ist sie beim Fegen, mit Einkaufstüten in der Hand oder „mit einer Schüssel Essen zu einem Kranken unterwegs“ (TÜR 26). Die kurzen Sequenzen sind mit einem warmen orangefarbenen Filter überzogen. Angesichts des Komplementärkontrasts von Blau und Orange wird das Publikum direkt auf die Ambivalenz der Beziehung gestoßen, die von Wärme und Kälte, aufkommender Helligkeit und Dunkelheit geprägt ist.

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Mitch Nielsen auf Unsplash


[1] Textgrundlage der folgenden Aufführung ist: Magda Szabó: Hinter der Tür, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,TÜR‘ und Seitenangabe.
[2] Vgl. Beiheft – Jenö Hábermann und Sandor Söth (Produzenten) & István Szabó(Regisseur). (2011) Hinter der Tür [Film]. Deutschland/Ungarn: Filmart Filmstúdió und Intuit Pictures.
[3] Vgl. Beiheft und Filmcover – (2011) Hinter der Tür [Film].
[4] Vgl. Sandra Theiß: Taking Sides – Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 325.
[5] Ebd., S. 325.
[6] Ebd., S. 325.

Magda Szabós Hinter der Tür – Ein Verrat an die Liebe

Die ungarische Schriftstellerin Magda Szabó ist für ihr Thema der Trauerbewältigung bekannt.[1]

Diesem Thema widmet sich ebenso ihr autobiographisch verfasster Roman Hinter der Tür[2] (Originaltitel: Az ajtó) aus dem Jahr 1987, der von der ambivalenten Beziehung der ungarischen Schriftstellerin selbst zu ihrer Haushaltshilfe Emerenc Szeredás, dessen Figur an die ehemalige Haushälterin Juliska angelehnt ist, handelt.[3] Als erzählendes Ich nimmt die Schriftstellerin eine Zentralstellung in der Retrospektive ein und reflektiert ihr falsches Handeln gegenüber Emerenc. Dafür offenbart sie bereits zu Anfang für den Tod ihrer Haushaltshilfe verantwortlich zu sein. „Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß [sie] sie nicht umbringen, sondern retten wollte“ (TÜR 9).

„Allzu verheißungsvoll“ (TÜR 11) beginnt die Beziehung der beiden nicht. Magda, eine intellektuelle Schriftstellerin, der weltlichen und kirchlichen Instanz zugehörig, zieht in den 1960ern mit ihrem Mann Tibor nach Budapest. Als Haushaltshilfe wird ihnen Emerenc empfohlen, die mit ihrem „wunderliche[n] Verstand“ (TÜR 19) ihrer eigenen Logik von Zeit und Nähe folgt. Während sie in einem Moment von ihrer tragischen Vergangenheit spricht, tritt sie der Schriftstellerin im nächsten Moment mit „Gleichgültigkeit“ (TÜR 42) gegenüber.

Magda fühlt sich, aufgrund dem ihr widersprüchlich wirkendem Verhalten von sanften Zärtlichkeiten und plötzlichen „Zurückweisung[en]“ (TÜR 18), oftmals wie ein „unerzogene[s] und begriffsstutzige[s] Kind“ (TÜR 29) behandelt und folglich missverstanden. Trotzdem legt sie ein eifersüchtiges Verhalten zutage, wenn Emerenc ein zärtlicheres Verhalten zu Tieren und anderen Mitbewohnern pflegt. Erst als Emerenc ihre Türen für Magda öffnet und das Geheimnis von ihren neun versteckten Katzen offenbart, obwohl „von Gesetzes wegen nur zwei erlaubt sind“ (TÜR 191), erhält Magda in ihren Augen das gewünschte Vertrauen. Nichtsdestoweniger hält es Emerenc nicht davon ab, Magda für ihre Eitelkeit und Angst, nicht akzeptiert zu werden, den Spiegel vorzuhalten. Ob sie „wieder nur mit sich beschäftigt“ (TÜR 181) sei und ob sie sich für etwas Besseres hält, fragt sie. Und indem sie den kirchlichen Glauben anprangert oder die Vorurteile Magdas dem „Kitsch“ (TÜR 97) gegenüber offenlegt, führt sie Magda ihre eigene Feigheit und Blindheit vor.

Die wohl wichtigste Wertenorm in Emerencens Leben ist ihre Vorstellung von der Liebe: „Eines müssen Sie lernen, man darf niemanden zum Bleiben nötigen, dessen Uhr abgelaufen ist. […] [U]m der Liebe willen muß man auch töten können“ (TÜR 122). Für sie erscheint es als selbstverständlich, ihrer guten Freundin Polett beim „Selbstmord“ (TÜR 112) zu helfen, Viola und ihren Katzen eine Spritze zu geben, „wenn die Zeit gekommen ist“ (TÜR 122). Denn „[d]er Tod ist barmherziger als umherzuirren und ausgestoßen zu sein“ (TÜR 191). Umgekehrt wird die Person bestraft, die Emerencens Liebe nicht zu würdigen weiß, geschweige denn hintergeht.

Schlussendlich ist auch Magda diejenige, die „den Rahmen ihres Lebens […] zerstört“ (TÜR 234). Als Emerenc sich aus der Gemeinschaft zurückzieht, empfindet Magda „kein Mitleid, kein Erschrecken, sondern einfach Wut“ (TÜR 206). Sie fühlt sich abermals zurückgewiesen. Zwei Wochen wird Emerenc nicht mehr gesehen, das von den Nachbarn vorbeigebrachte Essen von ihr nicht angerührt und ein „stechender Geruch“ (TÜR 209) geht von der Wohnung aus, sodass Magda keinen anderen Ausweg erkennt, als sie dort mit Gewalt herauszuholen. Statt jedoch selbst die Tür einzubrechen, um Emerencens Geheimnis zu wahren, lässt sie dies von anderen übernehmen und fährt selbst davon. Im Zuge dessen lässt Magda zu, dass Emerenc „bloßgestellt und entehrt“ (TÜR 234) wird. Obwohl Magda sich ihrer Schuld bewusst ist, verrät sie Emerenc ein zweites Mal an die Liebe und ihre Menschenwürde.

Nach Tagen des Vortäuschens einer „Amnesie“ (TÜR 256) traut sich Emerenc, nach ihren Katzen und dem Zustand ihres Hauses zu fragen. Doch ungeachtet von der Tatsache, dass Emerenc äußerst gefasst diese Frage stellt, vermeidet Magda ihr die Wahrheit zu sagen, um sie vor dem Tod zu schützen. Angesichts des „menschlichen und tierischen Unflat[s]“ (TÜR 222) müssen alle privaten Dinge und Wertsachen verbrannt werden. Doch mit der Zerstörung ihres einzigen Zuhauses wird Emerencens auch ihrer Identität beraubt. Ihre Vorstellung von Liebe, dass „der Tod […] barmherziger als umherzuirren und ausgestoßen zu sein“ (TÜR 191) ist, hat Magda letztendlich nicht begriffen, obwohl ein „vager Verdacht“ (TÜR 219) keimt.

Während Magda sich zu Anfang ungeliebt und nicht toleriert fühlt, ist es nun Emerenc, die im Glauben stirbt, dass Magda sie nie geliebt hat.

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Dima Pechurin auf Unsplash


[1] Vgl. Eva Haldimann: Magda Szabós Romanwelten, in: Magda Szabó: Hinter der Tür. Frankfurt am Main/Leipzig 1992, S.305-311, hier S.308.
[2] Textgrundlage der folgenden Aufführung ist: Magda Szabó: Hinter der Tür, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,TÜR‘ und Seitenangabe.
[3] Vgl. Kerstin Istvanits: Die Jugendromane von Szabó Magda – Álarcosbál (Maskenball) & Abigél (Abigail) (Magisterarb. Universität Wien 2010, Msschr.), S. 66.

(K)eine Literaturverfilmung – Zur Analyse einer Filmadaption

Dass kein Buch 1:1 in einen Film umgesetzt werden kann, da in beiden Medien das Zeichensystem und die einhergehende semiotische Differenz berücksichtigt werden müssen, ist heutzutage verstanden. Allerdings wird es noch nicht begriffen: Für viele habe sich der Film in ästhetischen Normen immer noch der Literatur anzupassen.[1] Während sich die schriftliche Lektüre verbalsprachlich ausdrückt, wird die Erzählung im Film audiovisuell illustriert. Somit unterliegt der Film anderen ästhetischen Konventionen sowie technischen Bedingungen als das Buch.[2] Aufgrund des unzulänglichen Begriffs Literaturverfilmung, der insbesondere eine externe Zuschreibung darstellt, versucht sich die Literaturwissenschaft an einen neuen Begriff. Die deutsche Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider definiert die Literaturverfilmung beispielsweise als Transformation von einem Zeichensystem zu einem anderen. Als alternativer Begriff ist aber auch die Adaption zu nennen, die sich der schriftliterarischen Vorlage anpasst.[3]

Nach dem deutschen Literaturhistoriker Helmut Kreuzer gibt es vier Arten der Literaturadaption: Bei der Aneignung von literarischem Rohstoff werden lediglich Handlungselemente oder Figuren aus der Buchvorlage übernommen. Überdies werden diese dann in einen autonomen Filmkontext umgesetzt. Die zweite Adaptionsart repräsentiert die Illustration, die bebilderte Literatur. Neben der Übernahme von Figurenkonstellation und wörtlichem Dialog, versucht sich der Drehbuchautor so weit wie im neuen Medium möglich, an den Handlungsvorgang zu halten. Allerdings darf die Illustration nicht mit der Vorstellung von Werktreue gleichgesetzt werden. So wirkt das für die Lektüre geschriebene Wort im Lesekontext anders als im Film. Als dritte Art ist die interpretierende Transformation zu nennen. Dafür wird zunächst die Aussage und dessen Wirkung aus der Textvorlage interpretiert. Anschließend wird der schriftliche Text in filmische Codes übersetzt, um ein analoges Werk zu generieren. Die letzte Art der Literaturadaption meint die Dokumentation, in dem unter anderem Theateraufführungen aufgenommen werden. Schlussendlich ist festzuhalten, dass sich die Filmadaption selten einer Reinform bedient, sondern sich aus verschiedenen Arten zusammensetzt.[4]

Bei der Transformation beziehungsweise Adaption von der Lektüre zum Drehbuch liegt der Schwerpunkt auf den Prozess der Umsetzung, der jedoch drei Beeinträchtigungen mit sich bringt. Erstens ist der Film im Gegensatz zum Buch nicht durchgehend in der Lage, die Innenwahrnehmung beziehungsweise subjektive Meinung einer Figur darzustellen, sodass häufig eine Außensicht auf die erzählte Welt gewählt wird. Zweitens werden im Film maßgeblich mehr Bewegungen im Raum sowie der Zusammenhang der Gegenstände bestimmt. Während der literarische Erzähler es schafft, die Figur detailliert und kraftvoll in Szene zu setzen, beeinflussen Hintergrund, Gegenstände, Licht und Farbe das Bild. Die Figur tritt insofern als Teilelement auf. Als letztes muss darauf hingewiesen werden, dass das filmische Erzählen konkreter vonstatten geht als das literarische Erzählen. So hat die Kamera unter anderem die Aufgabe aus Unmengen von Dingen die Reizelemente herauszulösen, die das Publikum ausschließlich informieren sollen.[5]

Letztendlich besteht die Kunst der DrehbuchautorInnen darin, die Lektüre in seine Beschränkung und Vereinfachung auf das Wesentliche zu komprimieren, das zu definieren, was sie für wesentlich halten. Dabei sollte die Kunst des Unerwarteten und Ideenreichtums nicht außer Acht gelassen werden.[6] Somit wird die Adaption und Transformation zur Interpretationsbühne der DrehbuchautorInnen und RegisseurInnen. Anders als im Buch verlangt die Erschließung des Films eine Analyse der visuellen, auditiven und narrativen Ebene sowie von deren Zusammenspiel. Insofern etabliert sich eine eigene Filmgrammatik aus Bild, Ton und Montage.[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Jon Tyson auf Unsplash


[1] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10-13.
[2] Vgl. ebd. S. 81-87.
[3] Vgl. ebd, S. 11f.
[4] Vgl. Helmut Kreuzer: Arten der Literaturadaption, in: Gast, Wolfgang (Hg.): Literaturverfilmung, Bamberg 1993, S.27-31, hier S. 27-30.
[5] Vgl. Thomas Koebner und Peter Ruckriegl: Literaturverfilmung, in: Koebner, Thomas (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 410-413, hier 410f.
[6] Vgl. Michel Chion: Techniken des Drehbuchschreibens, Berlin 2001, S. 102.
[7] Vgl. Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: Die Filmerzählung. Eine Einführung, Paderborn 2016, S. 166f.

Buchvorstellung: Terézia Mora – Alle Tage (2004)

Der 2004 erschienene Debütroman „Alle Tage“ von Terézia Mora handelt von Abel Nema, einem heimatlosen Sprachgenie. Geschrieben wurde der Roman auf Deutsch, da es sich bei Terézia Mora um eine Ungarndeutsche handelt.


Ein Mann aus einem Land, das es gar nicht mehr gibt – Das ist Abel Nema. „Eigentlich […] ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist“ (S. 13). Immer in schwarz gekleidet und wortkarg, auch wenn er zehn Sprachen zur Perfektion beherrscht. Hat man ihn überhaupt jemals in diesen Sprachen sprechen hören, wenn es nicht seiner Arbeit diente? Er wächst in einem Land auf, bei dem es sich vermutlich um Jugoslawien handelte. In der Nacht seiner Abiturfeier gesteht er seinem besten Freund seine Liebe – und stößt auf Ablehnung und Ekel. Nach einem Gasleck in einer Wohnung hat sich etwas verändert: Er kann sich plötzlich ohne Anstrengung jede Sprache aneignen, die er hört. Allerdings ist sein Geschmacks-, Geruchs- und Orientierungssinn verschwunden. Fliehend vor dem Krieg und der Zurückweisung seines ehemaligen Freundes, landet er irgendwann in einem anderen Land, bei dem es sich vermutlich um Deutschland handelt. Dort scheint zunächst alles gut zu verlaufen. Er findet Unterkunft bei einem anderen Emigranten, bekommt einen Sponsor für ein Studium aufgrund seines linguistischen Talents und lernt im Sprachlabor zehn Sprachen. Somit ist er um ein Vielfaches erfolgreicher als andere Emigranten, die sich mit Putzjobs und Musikauftritten über Wasser halten – oder auch nicht über Wasser halten und Obdachlosigkeit, Suizid und Gewalt erleben.
Nach einer Razzia zieht er zu einer weiteren Emigrantin, Kinga, die eine Band hat; jeden Abend wird getrunken und geraucht. Nur nicht von Abel, der inzwischen bemerkt hat, dass er nicht betrunken werden kann. Sein Studium und das Sprachlabor hat er derweil aufgegeben, schreibt aber noch an seiner Dissertation. Kinga stellt mit ihrem Charakter, der Wut, Lust, Verzweiflung und eigene Meinung frei ausdrückt, einen krassen Gegensatz zu dem reservierten Abel dar. Trotzdem, oder genau deswegen, ist sie in Abel verliebt. Er zieht danach noch zwei weitere Male um, einmal neben eine Fleischerei, einmal neben einen Sexclub. Irgendwann beginnt er, seinem zukünftigen Stiefsohn Omar Russisch beizubringen. Später wird ihm sein Laptop von einem Jungen geklaut. Nur darauf war seine unfertige Dissertation gespeichert.
In seiner bis dato letzten Wohnung fängt er an, in die „Klapsmühle“, den Sexclub in seiner Nachbarschaft zu gehen. Er beobachtet jedoch nur und beteiligt sich nicht an den Geschehnissen dort. In diesem Zeitraum lernt Mercedes ihn ein bisschen besser kennen und fragt ihn eines Tages, ob er eine Scheinehe zwecks seiner Aufenthaltsgenehmigung mit ihr eingehe wolle. Er nimmt an, bleibt aber im Laufe der Ehe weiterhin distanziert. Doch er und Omar, sein zehnjähriger Stiefsohn, kommen sich immer näher. Weitere Dinge geschehen: Kinga begeht Selbstmord und Abel nimmt aus der verlassenen Wohnung seines Nachbarn Amanita muscaria (Gewöhnlicher Fliegenpilz) ein und erlebt einen Drogenrausch, in dem er einige Erkenntnisse über sich selbst gewinnt. Nach diesem Rausch ist plötzlich seine Gabe weg: Er spricht plötzlich mit Akzent und wird nach einem halben Drink sofort betrunken. Auf dem Weg durch die Stadt wird er danach von ein paar Jungen zusammengeschlagen und stirbt fast. Durch ein dadurch ausgelöstes Hirntrauma
erleidet er eine Aphasie, also einen Verlust des Sprechvermögens. Er kann nur noch mit Anstrengung einfache Sätze der Landessprache bilden. Seitdem sagt er am liebsten „Es ist gut“.


Abel erlebt einiges in seinen Jahren in Westeuropa, z.B. eine Razzia, eine Scheinehe, viele Menschen, die ihn lieben. Aber liebt er zurück? Bemerkenswerterweise für einen Protagonisten trifft er selbst keine aktiven Entscheidungen, führt keine Gruppe an und scheint auch zu nichts eine Meinung zu haben. Er ist Kriegsdeserteur, initiiert nie selbst ein Gespräch und antwortet einsilbig auf Fragen. Und doch lieben ihn alle und helfen ihm, auch wenn er gar nicht danach fragt. Alle wollen das Geheimnis, das ihn scheinbar umhüllt, lüften. Aber dies ist wohl ein Geheimnis, was er auch vor sich selbst leugnet.
Dafür müsste er nämlich wohl erst wissen, wer er eigentlich selbst ist. Dabei kennt er nicht einmal seine eigene Nationalität. „Die Staaten, die euch festhielten mit eiserner Hand, haben euch hinausgespuckt in die Welt“ (S. 150). Ist er Kroate, Serbe, Bosnier oder doch Montenegriner? Wer kann das schon so genau sagen. Die Sprachen dieser Nationen variieren letztlich auch nur leicht.
Auch mit dem Lernen neuer Sprachen findet sich keine Erlösung, zeigt sich keine
Persönlichkeit. Abel spricht alle Sprachen akzentfrei, aber auch ohne jede persönliche Note. Wenn er sie denn einmal benutzt. Sein Nachname, Nema, bedeutet nämlich ‚der Stumme‘, denn obgleich er Sprachen beherrscht, benutzt er sie nie für ihren eigentlichen Zweck, die Kommunikation. Insgesamt eignet er sich viel an: zehn Sprachen, ein vertieftes Wissen über die Linguistik und all die Bereiche, in die sie hineingreift. Doch all das nutzte ihm nichts, die Sprache verlor er, seine Dissertation bekam auch niemand zu Gesicht. Ein weiterer Beweis für ihn als passive Person. Doch warum verhält er sich so? Hierzu möchte ich eine Textstelle zitieren, die sich auch auf der Rückseite des Buches befindet: „Jetzt und hier habe ich den
Frieden praktiziert, alle Tage, ja. Weil es möglich war. Und wenn der Preis dafür war, meine Geschichte, also meine Herkunft, also mich zu verleugnen, dann war ich mehr als bereit diesen zu zahlen. Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar. Guten und nicht so Guten gegenüber. Die Liebe war nur noch als Sehnsucht in mir. Ich hatte Glück, Fähigkeiten und Möglichkeiten, man kann nicht einmal sagen, ich hätte sie gänzlich vergeudet, trotzdem bin ich heute verloren. Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. […] Dass ich herkomme, wo ich herkomme. Dass passiert ist, was passiert ist.“ (S. 406)


Alles in allem kann ich das Buch allen ans Herz legen. Es hat einen ganz besonderen
Schreibstil, der zwar verwirren, aber auch begeistern kann. Die Abfolge der Kapitel ist nicht ganz chronologisch, weshalb ich es fast ein bisschen Schade finde, dass ich nicht genug Zeit hatte, das Buch ein zweites Mal zu lesen, um wirklich jede Kleinigkeit erfassen zu können. Als Leserin ergeht es mir fast genauso wie Abels Bekanntschaften: Man fängt an, für ihn Sympathie zu empfinden und mehr über ihn herausfinden zu wollen, auch wenn er bei weitem kein perfekter, vielleicht nicht einmal ein guter, Mensch ist. Doch genau das macht ihn wohl interessant und auch lesenswert.

Text: Talvikki Kosonen

Quellen:
Mora, Terézia. 2004. Alle Tage. München (Luchterhand Literaturverlag).

Titelbild: Photo by Clarissa Watson on Unsplash