Minna Canth – Finnlands erste Feministin

Der sogenannte Minna-Canth-Tag oder auch der tasa-arvon päivä (zu deutsch: Tag der Gleichstellung) jährt sich in Finnland dieses Jahr am 19. März zum 16. Mal. Die Namensgeberin Ulrika Wilhelmina Johnsson (1844-1897) war sowohl Finnlands erste bekannte Schriftstellerin als auch Frauenrechtlerin. Ihr Oeuvre umfasste Kurzgeschichten, Novellen, Theaterstücke sowie journalistische Werke.

In ihrem Leben übernahm sie diverse Rollen, die als Frau, Mutter, Geschäftsfrau und Schriftstellerin. Mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebte sie in Jyväskylä. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie Geschäftsfrau und erlang somit finanzielle Unabhängigkeit, die ihre Aktivität sowohl in literarischen als auch sozialen Kreisen prägte.

Minna Canth (1891)

Ihre Karriere als Schriftstellerin begann mit journalistischer Arbeit für lokale Zeitungen, dies weitete sich in den folgenden Jahren auf nationaler Ebene aus. Sie begann mit eigenen Werken, welche die damaligen strukturellen Bedingungen von Frauen und der Arbeiterklasse kritisierten. Ihr rhetorischer Schreibstil, der Fragen und direkte Appelle an die Leser*innen beinhaltete, machte auf soziale Ungleichheit aufmerksam. Canths Werke sind sowohl in finnischer als auch schwedischer Sprache verfasst.

Große Anerkennung erhielt sie für ihre realistische Darstellung von Frauen und der Infragestellung von patriarchalen Normen. Aktivismus, der für die heutige Gesellschaft selbstverständlich erscheint, war zu Lebzeiten von Canth äußerst kontrovers. Sie war ihrer Zeit oftmals voraus, dies sorgte beispielsweise für das Verbot ihres Stückes Unglückskinder (1888).

Laut Minna Rytisalo (Autorin und Lehrerin) sei Canth gewissermaßen die erste Feministin Finnlands gewesen. Für Canth hatten Frauen das Recht auf Ausbildung in allen Bereichen, in ihren Stücken repräsentierte sie emanzipierte Frauen, zum Beispiel in ihrem Stück Sylvi (1893).

Auch heute zeugen Canths Schriften von Relevanz, trotz der Ausweitung der Gleichstellung und der Rechte für Frauen (Finnland führte beispielsweise im Jahre 1906 als erstes europäisches Land das Wahlrecht für Frauen auf nationaler Ebene ein). Ihre Denkweise inspirierte über Generationen hinweg die finnische Frauenliteratur und auch heute können wir von Canth lernen, denn der Aktivismus für die Gleichstellung der Geschlechter zeigt sich beständig.

Quellen:
https://finland.fi/de/kunst-amp-kultur/finnische-autorin-minna-canth-kam-sah-und-trat-aktion/
https://kansallisbiografia.fi/

Bildquellen:
Titelbild: Markus Winkler auf Unsplash
Minna Canth: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Minna_Canth_vuonna_1891.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – eine Kraft der Märzrevolution

Ungarns bedeutender Dichter Sándor Petőfi (1823-1849) prägte nicht nur die ungarische Literatur, sondern spielte auch eine wichtige Rolle beim Ausbruch der ungarischen Revolution im März 1848. Er machte sich somit nicht nur als bekannter Schriftsteller, sondern auch als Freiheitskämpfer einen Namen.

Petőfi stammt aus Ungarn, wächst im Genuss guter Bildung auf, doch er schlägt einen anderen Weg, ohne Schulabschluss, als Dichter ein. Durch seinen Umzug nach Pest im Jahre 1844 verspricht er sich eine steigende Karriere als Dichter, die ihm mit Hilfe eines anderen Journalisten folglich gelang. In den darauffolgenden Jahren baute er seinen Erfolg aus. Seine Werke und seine sowohl thematischen als auch stilistischen Markenzeichen zeugen auch heute noch von großer Bekanntheit. Weitere Informationen zu Sándor Petőfis Wirken erfährt man in unserem letzten Blogbeitrag.

Trotz Petőfis höherem Bekanntheitsgrad als Dichter, nimmt seine Persönlichkeit, in Gedenken der Märzrevolution, bei dessen Anfängen und auch in den darauffolgenden Jahren, einen wichtigen Platz ein.

Historisch betrachtet befand sich Europa durch den Ausruf der zweiten französischen Republik am 24. Februar 1848 in Aufbruchsstimmung. Die bürgerlichdemokratische Revolutionswelle erfasste auch das Königreich Ungarn, Petőfis Heimatland.
Diese Welle traf durch die angespannte Lage im Kaisertum Österreich (Ungarn forderte den Ausbau der nationalen Unabhängigkeit) in Ungarn schnell auf Befürworter. Gewaltlose Massendemonstrationen in Pest und Buda ereigneten sich am 15. März, das sogenannte ZwölfPunkteProgramm der ungarischen Revolutionäre wurde von dem kaiserlichen Gouverneur akzeptiert und landesweite Aufstände brachen aus. Daraus resultierte der Ausruf einer neuen Regierung Ungarns, mit Lajos Batthyány als Ministerpräsidenten. Seine Regierung verabschiedete anschließend die sogenannten März– oder Aprilgesetze, die Ungarns Staatsform reformierten: Ungarn wurde eine konstitutionelle Monarchie.

Die ungarischen Revolutionäre forderten in ihrem Programm, das zur Freiheit der Bevölkerung und der Demokratisierung des Landes beitragen sollten, unter anderem die Pressefreiheit sowie die Aufhebung der geltenden Zensur und der Frondienste.

Unter den Revolutionären befand sich auch Sándor Petőfi. Er war vor allem am Ausbruch der Demonstrationen am 15. März 1848 beteiligt und ist somit einer der wichtigsten Repräsentanten, wenn man die Anfänge der ungarischen Revolution betrachtet.

Zur Zeit diesen Ausbruchs agierte Petőfi als einer der Anführer der radikalrevolutionären intellektuellen Jugend. Diese berief sich ebenfalls auf das ZwölfPunkteProgramm, das er gemeinsam mit anderen Revolutionären bei dem Versuch der Mobilmachung von Studenten proklamierte. Aus dieser Mobilmachung folgte der bekannte Aufstand für die Revolution.

Sándor Petőfis Gedicht Nationallied (Nemzeti dal) wurde durch seine spontane Darbietung anlässlich des Aufstands zu der Hymne der Revolutionäre (Talpra magyar, hí a haza!; zu deutsch: Auf, die Heimat ruft, Magyaren!). Es gelang durch den Zwang des Drucks des Gedichts, den die Revolutionäre auf die Druckerpresse ausübten, unzensiert in den Umlauf. Das Gedicht stößt bei der Bevölkerung auf Begeisterung, daher wurde es am selben Tag als Zeichen des Wandels bei der Volksversammlung erneut vorgetragen.

In den darauffolgenden Jahren wurde Petőfi Mitglied zahlreicher politischer Delegationen und Kommissionen. Er war Kapitän der Nationalgarde von Pest und schloss sich dem sogenannten Gleichheitsklub (Egyenlőségi Társulat), dem radikalsten Flügel der Revolution an. Im Oktober 1848 wurde er Hauptmann in Debrecen und ab 1849 diente er dem polnischen General Józef Bem in Siebenbürgen.

Sándor Petőfi fiel 1849 bei der Schlacht von Schäßburg, sein Grab ist bis heute unbekannt.

Petőfi zeigte zu seinen Lebzeiten politisches Engagement, sein Leben war eng mit dem Kampf um die Freiheit verbunden. Seine revolutionäre Seite erkennt man auch in seinen Werken wieder, politische Aspekte prägten diese in seiner gesamten schriftstellerischen Tätigkeit. Von Beginn an forderte er die Unabhängigkeit des ungarischen Nationalstaates.

Quellen:
Koch, Peter. Revolutionen in Ungarn. Umbruch 1989/90 und frühere Bewegungen. URL: https://osteuropa.lpb-bw.de/revolution-in-ungarn, abgerufen am 15.03.2023.
László Révész. Petőfi, Sándor. In: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 447-449 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1529, abgerufen am 15.03.2023.
Schlosser, Christine. 2009. Zwei Jahrzehnte ungarische Literatur in deutscher Übersetzung. 1988-2008. Eine kommentierte Bibliographie. Budapest.
Wollstein, Günther. 2010. Märzrevolution und Liberalisierung. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/revolution-von-1848-265/9875/maerzrevolution-und-liberalisierung/, abgerufen am 15.03.2023.
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi, abgerufen am 15.03.2023.

Bildquellen:
Titelbild: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_Nemzeti_M%C3%BAzeum.jpg
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pet%C5%91fi_S%C3%A1ndor.jpg
Nationallied: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:S%C3%A1ndor_Pet%C5%91fi#/media/File:Nemzetidal.jpg

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Sándor Petőfi – seine Wirkung als Dichter

Sein 200. Geburtstag, welcher sich am 1. Januar 2023 ereignete, bietet eine gute Gelegenheit den Dichter Ungarns zu betrachten, der die Zukunft entscheidend veränderte und die Vergangenheit nach seinem Bild umformte.

Sándor Petőfi (1823-1849) weist eine dokumentierbare Erfolgsgeschichte vor, die einzigartig für die ungarische Literatur ist. Diese zeugt allerdings auch von zahlreichen Verstößen gegen damalige literarische, gesellschaftliche und politische Normen.

Petőfi stammt aus einer Ungarisch sprechenden Familie slowakischen Ursprungs, die an einem lutherischen Glauben festhielt. Da seine Eltern seine schulische Ausbildung förderten, hatte er gute Chancen auf eine Karriere und damit auch auf soziale Mobilität, obwohl er aus keiner Adelsfamilie stammte. Doch als er 1842 bewusst das Gymnasium ohne schulischen Abschluss verließ, verzichtete er auf diese von seinen Eltern gebotene Möglichkeit.

Seine eigene Identitätsbildung wurde allerdings durch kollektive Adelsrechte, welche er durch seinen Vater erlangte (dieser erwarb einen Landsitz), geprägt. Petőfi war zwar nicht adelig gewesen, sondern gehörte lediglich einem gewissen Stand an, bis sein Vater seine Ländereien verlor, doch diese Zugehörigkeit hatte ihre Grenzen, die beispielsweise auch ein alter Mitschüler schilderte, Petőfi sei ein aufdringlicher, slowakischer und lutherischer Schüler.

Seine politische Karriere scheiterte bereits 1848 bei den Wahlen zum Parlamentsabgeordneten. Dort versuchte er, seine Wähler mit einem Wir-Bewusstsein zu überzeugen, doch dies blieb erfolgslos.

Sein Erfolg als Dichter war im Einklang mit dem damaligen politischen und gesellschaftlichen Wandel des Landes, es bildeten sich Tendenzen zur Demokratisierung. Die Kriterien zu der Zugehörigkeit einer Gesellschaft wandelten sich, ein neues Kulturverständnis und der Begriff der Volkskultur entstand. Somit bekam auch die literarische Kunst eine neue Bedeutung und eine Art Presselandschaft wurde in Ungarn gebildet.

Dank diesem Wandel erlangten auch Dichter*innen und Schriftsteller*innen einen neuen Status. Dies half auch Petőfi, als er in den 1840ern seinen Auftritt als Dichter begann. Um diese Karriere zu fördern und auszubauen, verließ er 1844 seinen damaligen Wohnort Debrecen und zog nach Pest, dort erhoffte er sich einen Aufschwung als Dichter.

Durch diese weitere bewusste Entscheidung schaffte der Dichter es noch zu Lebzeiten, sich eine eigene Marke zu erstellen. Er brachte eine Art volkstümliche Kultur mit, diese spielte auch in seinen späteren Gedichten eine wichtige Rolle.

Mit Hilfe von Imre Vahot (dieser war ein ungarischer Schriftsteller und in Besitz einer eigenen Zeitschrift) gelang Petőfi die Erstellung eines öffentlichen Bildes. Imre Vahot kaufte die Rechte seiner Gedichte, stellte ihn in der Öffentlichkeit als Naturgenie dar, und prägte somit seine öffentliche Präsenz und Wirkung. Durch die Entwicklung einer Art Markenstrategie und die publike Anpassung Petőfis gelang es tatsächlich seinen Erfolg auf landesweiter Ebene auszubauen.

Auch zu seiner Persönlichkeit gab es geteilte Meinungen. Konservative Kritiker*innen sahen in ihm Entwürdigung der Dichtung, doch aus Sicht seiner Freunde brachte er frischen Wind und belebte die damalige Literatur.

Ein interessanter Fakt zu seinen Anfängen als Dichter betrifft seine erste Leserschaft. Denn obwohl Petőfi eine volkstümliche Stimme war, bestand diese nicht aus dem einfachen, ungebildeten Volk, sondern aus der adelig- bürgerlichen Schicht, vermehrt Frauen.

Sándor Petőfi besaß sowohl als eigene Persönlichkeit als auch als Stimme hinter seinen Dichtungen viele Markenzeichen. Immer wieder zeugte seine Poesie von Verständlichkeit, seine Texte benötigten keine Interpretationen, was er sagte, wurde verstanden. Für ihn war es wichtig, dass das Publikum seine Werke verstehen und aufnehmen kann, die Einhaltung der Regeln der damaligen Poesie standen für ihn nur an zweiter Stelle. Er wirkte durch diesen Aspekt und durch seine demokratisierende Sprache vielmehr als romantisches Genie. Sein Mythos beinhaltete auch das Grundprinzip des Nationalismus.

Die bereits genannte Volkstümlichkeit war eines seiner wichtigsten Markenzeichen, die damalig vorhandenen Mittel der ungarischen Literatur überführte er ebenfalls in diese. Auch die dazugehörige Volkssprache spielte in seinen späteren Werken eine Rolle. Für ihn war sie die Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung. Ein Beispiel für diese Akzente findet man in seinem Werk Held János.

Die Freiheit und seine dazugehörigen Ideologien prägten seine Werke ebenfalls, er zeigte diese ganz offen, der Begriff der Freiheit war für ihn die Grundlage des Lebens und der Politik. Aber auch der Individualismus war hiermit verbunden, sein Gebot der Freiheitsideologie besagt, dass das Individuum über allem stehe.

Den Aspekt der Politik baute er auf eine natürliche Art und Weise in seine Lebensweise, Weltanschauung und Dichtung ein. Sein offen erkennbares politisches Denken wurde in den letzten Jahrzehnten oftmals debattiert, allerdings ohne ein aussagekräftiges Ergebnis.

Petőfis Bekanntheit erlang ein individuelles Ausmaß, er wurde in gewissermaßen zur Symbolfigur des Demokratisierungsprozesses Ungarns, die selber aus dem Volk stammte.

Die lebendige Sprachweise, die Leidenschaft und seine persönliche Haltung verliehen seinen Dichtungen einen individuellen Touch, dadurch hoben diese sich, trotz ähnlichen Thematiken, von den Werken seiner Zeitgenossen ab.

Quellen:
E. Csorba, Csilla (2015): A Petőfi-dagerrotípia. Miért azt látjuk, amit látunk? Rubicon 2015/7. 58-63.
Fekete, Sándor (1977): Így élt a szabadságharc költője
Margócsy, István (1998): A szabad elvű Petőfi. Holmi, 1998/3. 309-322.
Margócsy, István (2003): “…ikercsillagok, egymás kiegészítői…” Petőfi és Arany kettős kultusza és kettős kanonizációja. ItK, 2003/4-5. 442-469.
Milbacher, Róbert (2023): Petőfi, a normaszegő. Élet és Irodalom, 2023/7, 13.
Pesti, Brigitta: Einführung in die ungarische Literaturgeschichte I. Ungarische Literatur von ihren Anfängen bis zur beginnenden Moderne
Szilágyi, Márton (2015): Petőfi Sándor és a polgári létezés lehetőségei. Rubicon 2015/7. 14-19.
Szolláth, Dávid (2004): A kultuszkutatás két tendenciája. In: Buksz, 2004/3. 232-240.

Präsentationsskript des Vortrags “Sándor Petőfi – Entstehung einer Kultmarke” von PhD Judit Molnár, Finnisch-Ugrisches Seminar der Georg-August-Universität Göttingen (2023)

Bildquellen:
Titelbild: Digital Content Writers India auf Unsplash
Portrait: gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Orlai-petofi1.jpg
Kokarde: Hungarian cockade von Khalai via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magyar_kok%C3%A1rda.png (CC BY-SA 3.0)

Text: Liv Kallender, Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Praktikantin

Geister in Helsinki

Finnlands Hauptstadt Helsinki hat eine lange und vielseitige Geschichte, die Einige in den Bootstouren und Stadtführungen, die besonders in der sommerlichen Touristensaison zahlreich angeboten werden, vielleicht schon kennengelernt haben. In der dunklen Hälfte des Jahres zeigt sich die Stadt aber von einer anderen Seite: bei dem „Kummituskävely“ erfährt man von den Gespenstern, die in den historischen Gebäuden und Plätzen Helsinkis ihr Unwesen treiben. Diese Führungen sind trotz der kalten Herbstnächte sehr beliebt, weshalb es nicht einfach ist, einen Platz zu bekommen. Wer aber mutig genug ist, kann sich mit dem Stadtführer Helsingin henget. Opas aaveiden pääkaupunkiin selbstständig auf Geisterjagd begeben. Darin finden sich Ortsbeschreibungen und historisches Hintergrundwissen, aber auch die Geistergeschichten selbst.

Im Piperin puisto auf der Festungsinsel Suomenlinna zum Beispiel gibt es einen Teich, der auch „Lemmenlampi“ genannt wird, also „Teich der Liebe“. Der romantische Klang trügt: Ende der 1700er versuchte ein Pärchen, das aufgrund von Standesunterschieden nicht zusammenbleiben durfte, sich darin zu ertränken. Der weite Rock der Frau allerdings schwamm auf der Teichoberfläche und alarmierte einen Spaziergänger, der die Frau daran aus dem Teich zog – sie überlebte allein. Aus Schuldgefühlen soll sie noch immer um den Teich wandern, und in der Dämmerung schimmert ihr Fußknöchel über der Wasseroberfläche.

Mysteriöser ist die Gestalt der weißen Dame, die hin und wieder beim Verlassen des 1952 gegründeten Restaurants Walhalla – ebenfalls auf Suomenlinna – gesichtet wird. Sie schwebt zur Vorderseite hinaus und löst sich in Luft auf. Man vermutet, dass sie etwas sucht, doch ihre Identität und Geschichte kennt niemand.

Auch im beliebten Café Kappeli in den Esplanaden nahe dem Markt soll es spuken, allerdings mit weniger Mysterium: der Besitzer und Gastwirt Josef Wolontis hat sich nach seinem Tod nicht von seinem ehemaligen Betrieb trennen können, und sorgt seit 1980 regelmäßig für seltsame Begebenheiten. Mal verschwindet nach Schließzeiten ein Stuhl und taucht am nächsten Tag aus dem Nichts wieder auf, mal fallen im Keller Gegenstände aus den Regalen. Wer, um ihn zu treffen, als Gast dort regelmäßig einkehren möchte, sollte allerdings im Vorhinein etwas Geld sparen: es ist dort sehr teuer.

Interessanter sind die Geschichten, die sich um die „Grauen Frauen“ ranken, weibliche Geisterscheinungen, die meist aus dem viktorianischen Zeitalter stammen. Oft handelt es sich dabei um Frauen, die mit den gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Zeit in Konflikt gerieten und auch nach ihrem Tod noch nach ihrem eigentlichen Platz suchen. Eine von ihnen, kopflos, soll im Rathaus gesichtet worden sein – dort bewegen sich seitdem die Fahrstühle immer mal von selbst, ohne dass jemand ein- oder ausgestiegen wäre.

Text: Eva Kraushaar

Quellen:
Kairulahti, Vanessa und Karolina Kouvola. Helsingin Henget. Opas aaveiden pääkaupunkiin. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura 2018
Kruununhaan kummitustarinat -kummituskävely | Event | City of Helsinki
Titelbild: Joakim Honkasalo auf Unsplash

Mit einer Räuberfamilie unterwegs, oder: was passiert, wenn die Sommerferien zu langweilig sind.

Die finnougrische Schönliteratur hat nicht nur für Erwachsene etwas zu bieten. Auch die Kinder- und Jugendliteratur stellt seit langer Zeit einen wichtigen Teilbereich des literarischen Lebens dar und wird in größerem Umfang publiziert. Insbesondere aus Finnland haben auch bereits viele Titel ihren Weg nach Deutschland gefunden, nicht zuletzt, seit Finnland 2014 Partnerland der Frankfurter Buchmesse war.

Siri Kolu

Eine der Autorinnen, die man in deutscher Übersetzung lesen kann, ist Siri Kolu (*1972). Sie studierte Literatur- und Theaterwissenschaften in Helsinki und ist neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Dozentin, Regisseurin und Dramaturgin tätig. Ihr Debüt, Metsänpimeä (z.Dt. Waldesdunkel), erschien bereits 2008. Größere Bekanntheit erlangte Kolu auch hierzulande mit der Vilja-Reihe, für deren ersten Band namens Vilja und die Räuber (orig. Me Rosvolat) sie 2010 sogar den Junior-Finlandia-Preis bekam. Über sich selbst sagt sie, dass sie Flohmärkte und Windhunde, Katastrophenfilme und Steampunk mag. Kolus jüngster Roman erschien im Mai 2022 unter dem Titel Yön salaisuus (z.Dt. Das Geheimnis der Nacht).

Aber wer ist eigentlich Vilja?

Vilja ist zu Beginn der Romanreihe 11 Jahre alt und wird von einer Räuberfamilie gekidnappt. Klingt furchtbar? Von wegen! Vilja ist von ihrer großen Schwester, den Eltern und den ziemlich langweiligen Sommerferien genervt und da kommt ein bisschen Abwechslung und Abenteuer gerade recht. Anstatt sich vor den Räubern zu fürchten, wird sie freundlich aufgenommen und findet in den Räuberkindern Hele und Kalle neue Freunde. Doch nicht nur das – auch in Vilja steckt das Zeug zu einer richtigen Räuberin und gemeinsam mit Familie Räuberberg erlebt sie ein großes Räubersommerabenteuer, das in den nachfolgenden Romanen fortgesetzt wird.

In Finnland sind mittlerweile acht Titel der Vilja-Reihe erschienen, in deutscher Übersetzung kann man immerhin schon drei verschiedene Räuberabenteuer lesen und auch eine Verfilmung gibt es bereits.

Quellen:
Kolu, Siri. 2012. Vilja und die Räuber. München (Heyne).
https://www.penguinrandomhouse.de/Autor/Siri-Kolu/p425273.rhd#
https://fi.wikipedia.org/wiki/Siri_Kolu
https://otava.fi/kirjailijat/siri-kolu/
https://otava.fi/kirjat/yon-salaisuus/
http://merosvolatelokuva.fi/
Bildquelle: Eliott Reyna auf Unsplash

Die Deutsche Bibliothek in Helsinki

Kennt ihr schon die Deutsche Bibliothek in Helsinki? Sie wurde 1881 gegründet und beherbergt eine große Sammlung deutschsprachiger Literatur. Aber auch für Studierende der Finnougristik und Fennistik ist die Bibliothek mit dem gemütlichen Lesesaal ein perfekter Lektüreort.

Der Lesesaal in der Deutschen Bibliothek

Dieser Lesesaal nämlich befindet sich im Bereich der Fennica-Sammlung. Die wurde in den 1920ern gegründet, mit dem Ziel, alle deutschen Übersetzungen finnischer und finnlandschwedischer Literatur und deutschsprachige Sachbücher über Finnland zusammenzustellen. Zwar ist die Sammlung mit ca. 4000 Titeln bis heute nicht ganz vollständig, der Anspruch auf Lückenlosigkeit wird aber weiterhin verfolgt. Zudem werden alte Übersetzungen nicht ausgesondert, wenn eine Modernere hinzukommt. Dadurch könnt ihr hier beispielsweise alle deutschprachigen Versionen des Kalevala, von Alexis Kivis Die Sieben Brüder, und Väinö Linnas Kreuze in Karelien/Der unbekannte Soldat ausleihen.

Historische Bücher in der Deutschen Bibliothek

Auch für Interessierte an finnougristischer Forschungsgeschichte gibt es ein paar Schätze. In der Glasvitrine finden sich einige alte Titel aus dem 17. sowie dem mittleren 18. Jahrhundert, bei denen es sich um frühe Beschreibungen Lapplands und saamischer Sprachen und Kulturen handelt. Zum Beispiel Johannes Schefferus‘ Lappland. Neue und wahrhafftige Beschreibung von Lappland und dessen Einwohnern. (Heute selbstverständlich inhaltlich veraltet).[1]

Wer sich lieber mit Themen aus Neuzeit und Gegenwart auseinandersetzt, kann auf das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen zurückgreifen, das von der Deutschen Bibliothek herausgegeben wird. Das erschien zunächst als Rundschreiben unter dem Titel Mitteilungen aus der Deutschen Bibliothek; mit der Zeit kamen deutschsprachige Übersetzungen und literaturwissenschaftliche Texte hinzu.

Heutzutage wählt das Redaktionsteam ein jährliches Schwerpunkthema aus, zu dem dann Textausschnitte aus der finnischen Literatur sowie kultur- und literaturwissenschaftliche Beiträge zusammengestellt werden. Außerdem werden Neuerscheinungen rezensiert, sowohl deutschsprachige Übersetzungen finnischer, finnlandschwedischer und saamischer Literatur als auch deutschsprachige Belletristik und Sachbücher mit Finnlandbezug.

Das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen hat einige Abonnenten und ihr findet es auch im Bestand der Göttinger SUB – reinschauen lohnt sich!

Mit großem herzlichen Dank an Gabriele Schrey-Vasara und Robert Seitovirta für die ausführlichen Auskünfte!

Text & Bilder: Franziska Kraushaar

Quellen:
Schriftliches Interview mit Gabriele Schrey-Vasara vom 01.06.2022
Schriftliches Interview mit Robert Seitovirta vom 14.06.2022
Website der Deutschen Bibliothek: https://www.deutsche-bibliothek.org/fi/kirjasto.html
Artikel über Schefferus: Die Nordlichroute – Johannes Schefferus (uit.no)


[1] Obwohl Schefferus Ansinnen zu seiner Zeit eine sachliche Darstellung der saamischen Bevölkerung war, setzen sich die Kapitel aus Berichten schwedischer Pfarrer in saamischen Gebieten zusammen und sind dementsprechend von einer christlicher Perspektive des 17. Jahrhunderts gefärbt; dazu kommt eine Rezeptionsgeschichte, die den ursprünglichen Inhalt des Buches in verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen weiter veränderte und ein mystifizierendes, verfälschendes Bild der Saamen schuf. Siehe: Die Nordlichroute – Johannes Schefferus (uit.no)

Hinter der Tür: Die Kunst der Umsetzung – Teil II: Oder doch das amerikanische Happy End?

In der Literaturadaption Hinter der Tür überlässt István Szabó nichts dem Zufall. Mit seinem wörtlich genommenen roten Faden verfolgt der Regisseur dementsprechend dem Hauptthema des Buches, der Liebe: rotes Feuer, rotes Blut, eine rote Mütze und rote Leuchte. Um den Verrat besonders hervorzuheben, dienen zur Veranschaulichung sowohl Detailaufnahmen als auch Geräusch- und Musikuntermalungen. Neben der Kamera visualisiert zudem der Schnitt und die Montage István Szabós Interpretation der Geschichte. Der harte Schnittwechsel imitiert das episodenartige Erzählen, Ab- und Aufblenden rhythmisieren den Film.

Weitere Leitmotive wie der Wind und die Stille symbolisieren die berüchtigte „Ruhe vor dem Sturm“ (TÜR 100). Als Magda und Évike am Ende bei stürmischen Regen auf dem Friedhof stehen und um Verzeihung bitten, reißt kurz darauf der Himmel auf. Aufgrund dessen könnte der Eindruck entstehen, dass sich hier der Kreis schließt und für Magda die Geschichte doch noch ein gutes Ende nimmt. Das berühmte Happy End. Jedoch sei es nicht Magda Szabós Absicht gewesen, nach ihrem schriftlichen Geständnis auf Erlösung zu hoffen. Deshalb wird ihr anfänglich beschriebener Traum auch am Ende wiederholt: „Immer träume ich ein und dasselbe. […] Der Schlüssel dreht sich im Schloß. Doch ich bemühe mich vergebens“ (TÜR 303).

István Szabó schafft es durch sein Ende, ein weiteres Thema des Romans zu illustrieren: Den Glauben an Gott und das Jenseits. Der Himmel öffnet sich nicht, weil Magda von ihrer Schuld erlöst werden soll, sondern um abermals ihre Erkenntnis zu illustrieren. Emerenc verspottet Magda für ihre „einwöchige Religiösität“ (TÜR 182) und hegt laut Magda anscheinend „eine leidenschaftliche Feindseligkeit“ (TÜR 30) gegenüber Gott. Und obwohl Emerenc es leugnet, ehrt sie „Gott durch ihre Taten“ (TÜR 179). Für Magda wird Emerencens vollkommene Gläubigkeit erst am Totenbett bewusst. „Sie glaubte also doch ans Jenseits“ (TÜR 282), äußert Magda in ihren Gedanken, als Emerenc in ihrer Enttäuschung davon redet, dass sie über Magda gewacht hätte, hätte sie sie einfach sterben lassen. Doch jetzt wäre es zu spät.

Dass der Regisseur ein so eindeutiges Ende von einer fortwährenden Schuld ins Positive wandeln würde, erscheint dem Publikum als unwahrscheinlich. Doch handelt es sich um Szabós Interpretation und sein Wille der Umsetzung von Farbgebung, Licht und Mimik. Bereits auf der Filmhochschule lernt er von seinem Lehrer Félix Máriássy die künstlerische Disziplin der Regie kennen.[1] Die wohl wichtigste Frage, die ihn fortan begleitet, lautet: „[W]arum das oder jenes, warum so oder so?“[2]. Im Zuge dessen wird für Szabó erstmals die Unendlichkeit der filmischen Gestaltung vor Augen geführt. Entgegen der Annahme, dass der Film zu sehr von Hintergrund, Gegenständen, Licht und Farbe beeinflusst wird, um wie im literarischen Text, Dinge und Figuren detailliert und kraftvoll in Szene setzen zu können, schafft es Szabó mit seiner Gestaltung dem Vorurteil entgegenzuwirken.

Mit seiner Adaption gelingt es István Szabó das Anschauen eines Films aktiv zu gestalten und sich der Annahme, der Film sei aufgrund vorgegebener Bilder und Töne rein passiv, entgegenzustellen. Angesicht der literarischen Visualisierung geht das Publikum beim Anschauen von „Hinter der Tür“ wie bei der Rezeption eines Schrifttextes vor.[3] Um seiner eigenen Adaption gerecht zu werden, sind für Szabó insbesondere „die Großaufnahme […] wichtig und künstlerisch die Schauspieler“[4]. Des Weiteren herrschen grundsätzlich minimale Gestaltungstechniken für die Erzählung vor. Im Gegensatz zu einer Abwertung des Begriffs „einfach“, definiert Szabó: „Einfach“ hat nichts zu tun mit „primitiv“, „einfach“ heißt, das, was man erzählen möchte, dicht und klar zu zeigen“[5]. Aufgrund seiner „dicht und klar“[6] erzählten Gestaltung, treten besonders Raum, Licht, Charaktere und Musik in den Vordergrund. In ihrer Gestaltung liegen sie ebenso einer Interpretation des Regisseurs zugrunde, wie der Schrifttext der Autorin. Wie bei einem Buch offenbart sich die Auflösung eines Films für die einen erst nach dem zweiten oder dritten Mal Lesen beziehungsweise Anschauen, für andere wiederum gar nicht. Mit dem Anschauen eines Films interpretiert das Publikum nun die Interpretation des Regisseurs. Die Verkettung deutet bereits auf eine unmögliche Einigkeit hin.

Abschließend ist zu sagen, dass der Film ebenso wie die Literatur und Malerei eine eigenständige und erwachsene Kunstform repräsentiert. Ob das Publikum sich jemals in einer Interpretation und dem einhergehenden Kunstgedanken einigt, gleicht einer utopischen Vorstellung. Ohnehin besitzt István Szabó oftmals den Eindruck, dass die Zuschauer ihn nicht richtig verstehen und er nicht klar genug in seiner Gestaltung ist. Zwar ist es sein Wunsch, für alle präzise zu sein. Doch: „[M]anchmal führt mich […] Klarheit und Deutlichkeit in eine Richtung, die nicht wirklich gut ist. […] Ein Kunstwerk muss immer Geheimnisse haben.“[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Eric TERRADE auf Unsplash


[1] Vgl. John Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe (eBook), New York 2014, Kap. 2, Abs. 4.
[2] István Karcsai Kulcsár: István Szábo, Düsseldorf 1978, S. 9.
[3] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10.
[4] Sandra Theiß: Taking Sides – Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 325.
[5] Ebd., S.323f.
[6] Ebd., S.323f.
[7] Ebd., S. 327.

Hinter der Tür: Die Kunst der Umsetzung – Teil I: Der Regisseur als Autor

2011 wird der Roman Hinter der Tür[1] in einer deutsch-ungarischen Koproduktion unter der Regie von István Szabó, der ebenfalls mit seiner Co-Autorin Andrea Vészits das Drehbuch schreibt, adaptiert. Die Kameraführung des 95-minütigen Dramas übernimmt nicht der an der Seite Szabós bekannte Lajos Koltai, sondern erstmals der mehrfach ausgezeichnete Kameramann Elemér Ragályi.[2] In seiner Literaturadaption Hinter der Tür (Originalfilmtitel: The Door) arbeitet István Szabó die Beziehung zwischen Magda (Martina Gedeck) und Emerenc (Helen Mirren) aus, die aufgrund von Herkunft und Lebensumstände jeweils ihre eigenen Konventionen ausleben. Als Emerenc bei Magda als Haushaltshilfe anfängt, entsteht eine ambivalente Beziehung, die von einem stetigen Wechsel von Fürsorge und Zurückweisungen, von Liebe und Schuld geprägt ist. Die größte Grenze ist jedoch Emerencens Haus.[3]

Szabó entscheidet sich bei seiner Adaptionsart sowohl für die „Illustration“ als auch für die „interpretierende Transformation“. Neben der illustrierten Übernahme von Figurenkonstellation, Handlung sowie zahlreiche Dialoge, interpretiert Szabó zunächst das Geschriebene, um es dann in ein neues Zeichensystem zu setzen. Ziel ist es, mit seiner Interpretation seine Erfahrungen, was er gesehen und erlebt hat, weiterzugeben.[4] So lautet seine Devise: „Wenn ich nichts zu sagen habe, kann ich keine Filme machen“.[5]

Szabós wesentliche Regieambition besteht darin, „Emotionen und Gedanken, die ganz plötzlich entstehen, auf der Leinwand sichtbar zu machen“.[6] Zunächst ermöglicht er durch die Normalsicht eine direkte Teilhabe des Publikums am Geschehen. Zudem visualisiert die auf Augenhöhe konzipierte Einstellung die ebenbürtige Stärke beider Hauptprotagonistinnen. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren werden die jeweiligen Reaktionen gleichermaßen gegenübergestellt. Um die Emotionen und Gefühlsregungen nochmals hervorzuheben, dominieren Nah- und Großaufnahmen. Mittels langsamer Kameraschwenks und langem Verharren auf den Gesichtern wird somit die Mimik zum Haupterzähler.

Durchaus lässt sich eine filmische Umsetzung der subjektiven Meinung und Innenwahrnehmung der Ich-Erzählerin schwierig gestalten. Die Autorin erzählt ihre Geschichte aus der Retrospektive und verfügt daher über mehr Informationen, um ihre Schuld verarbeiten zu können. Aufgrund dessen ergibt sich die Möglichkeit von einwerfenden Kommentaren, die ihr Verhalten entschuldigen oder ihre Schuld deutlich hervorhebt: „Ich sagte mir, dieses schreckliche Unbehagen und die unerträgliche Spannung seien Lampenfieber, dabei war es nur mein Schuldbewußtsein“ (TÜR 219). Um Magdas Innenwahrnehmung auffassen zu können, lässt Szabó diese mittels anderer Figuren aussprechen. Beispielsweise durch den Ehemann Tibor, der durch seine Funktion als Magdas Sprechrohr im Gegensatz zum Buch als dritter Hauptcharakter fungiert. Neben dem Voice-Over und der subjektiven Kamera wird für die Illustrierung von Magdas Gedanken eine weitere Technik, die des Mindscreens, verwendet. Magda bietet sich zum Ende hin die Möglichkeit, Emerenc die Wahrheit zu beichten. Anstatt dessen entscheidet sich Magda für die Lüge. Darauf wird parallel zu ihrem zweiten Verrat ihre Vorstellung, wie es hätte richtig ablaufen müssen, illustriert. Mittels dieser Einstellung unterstreicht der Regisseur das Fehlverhalten der Autorin.

Szabós Gestaltungstechniken, von Farbfiltern über Kameraführung und -schnitt bis hin zur Musikuntermalung entsprechen einer unwillkürlichen Funktion. Nichts ist dem Zufall überlassen. Unter anderem der Visualisierung von Magdas Wahrnehmung: „[B]loß bemerkte ich wieder einmal nicht, daß sich düstere Wolken am Horizont zusammenzogen, daß es die Ruhe vor dem Sturm war“ (TÜR 100). Bereits im Intro wird auf diese Wahrnehmung Bezug genommen. Dramatisch aufziehende dunkelblaue Gewitterwolken werden kurzzeitig von Emerencens Erscheinung unterbrochen. Gezeigt ist sie beim Fegen, mit Einkaufstüten in der Hand oder „mit einer Schüssel Essen zu einem Kranken unterwegs“ (TÜR 26). Die kurzen Sequenzen sind mit einem warmen orangefarbenen Filter überzogen. Angesichts des Komplementärkontrasts von Blau und Orange wird das Publikum direkt auf die Ambivalenz der Beziehung gestoßen, die von Wärme und Kälte, aufkommender Helligkeit und Dunkelheit geprägt ist.

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Mitch Nielsen auf Unsplash


[1] Textgrundlage der folgenden Aufführung ist: Magda Szabó: Hinter der Tür, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,TÜR‘ und Seitenangabe.
[2] Vgl. Beiheft – Jenö Hábermann und Sandor Söth (Produzenten) & István Szabó(Regisseur). (2011) Hinter der Tür [Film]. Deutschland/Ungarn: Filmart Filmstúdió und Intuit Pictures.
[3] Vgl. Beiheft und Filmcover – (2011) Hinter der Tür [Film].
[4] Vgl. Sandra Theiß: Taking Sides – Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 325.
[5] Ebd., S. 325.
[6] Ebd., S. 325.

Magda Szabós Hinter der Tür – Ein Verrat an die Liebe

Die ungarische Schriftstellerin Magda Szabó ist für ihr Thema der Trauerbewältigung bekannt.[1]

Diesem Thema widmet sich ebenso ihr autobiographisch verfasster Roman Hinter der Tür[2] (Originaltitel: Az ajtó) aus dem Jahr 1987, der von der ambivalenten Beziehung der ungarischen Schriftstellerin selbst zu ihrer Haushaltshilfe Emerenc Szeredás, dessen Figur an die ehemalige Haushälterin Juliska angelehnt ist, handelt.[3] Als erzählendes Ich nimmt die Schriftstellerin eine Zentralstellung in der Retrospektive ein und reflektiert ihr falsches Handeln gegenüber Emerenc. Dafür offenbart sie bereits zu Anfang für den Tod ihrer Haushaltshilfe verantwortlich zu sein. „Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß [sie] sie nicht umbringen, sondern retten wollte“ (TÜR 9).

„Allzu verheißungsvoll“ (TÜR 11) beginnt die Beziehung der beiden nicht. Magda, eine intellektuelle Schriftstellerin, der weltlichen und kirchlichen Instanz zugehörig, zieht in den 1960ern mit ihrem Mann Tibor nach Budapest. Als Haushaltshilfe wird ihnen Emerenc empfohlen, die mit ihrem „wunderliche[n] Verstand“ (TÜR 19) ihrer eigenen Logik von Zeit und Nähe folgt. Während sie in einem Moment von ihrer tragischen Vergangenheit spricht, tritt sie der Schriftstellerin im nächsten Moment mit „Gleichgültigkeit“ (TÜR 42) gegenüber.

Magda fühlt sich, aufgrund dem ihr widersprüchlich wirkendem Verhalten von sanften Zärtlichkeiten und plötzlichen „Zurückweisung[en]“ (TÜR 18), oftmals wie ein „unerzogene[s] und begriffsstutzige[s] Kind“ (TÜR 29) behandelt und folglich missverstanden. Trotzdem legt sie ein eifersüchtiges Verhalten zutage, wenn Emerenc ein zärtlicheres Verhalten zu Tieren und anderen Mitbewohnern pflegt. Erst als Emerenc ihre Türen für Magda öffnet und das Geheimnis von ihren neun versteckten Katzen offenbart, obwohl „von Gesetzes wegen nur zwei erlaubt sind“ (TÜR 191), erhält Magda in ihren Augen das gewünschte Vertrauen. Nichtsdestoweniger hält es Emerenc nicht davon ab, Magda für ihre Eitelkeit und Angst, nicht akzeptiert zu werden, den Spiegel vorzuhalten. Ob sie „wieder nur mit sich beschäftigt“ (TÜR 181) sei und ob sie sich für etwas Besseres hält, fragt sie. Und indem sie den kirchlichen Glauben anprangert oder die Vorurteile Magdas dem „Kitsch“ (TÜR 97) gegenüber offenlegt, führt sie Magda ihre eigene Feigheit und Blindheit vor.

Die wohl wichtigste Wertenorm in Emerencens Leben ist ihre Vorstellung von der Liebe: „Eines müssen Sie lernen, man darf niemanden zum Bleiben nötigen, dessen Uhr abgelaufen ist. […] [U]m der Liebe willen muß man auch töten können“ (TÜR 122). Für sie erscheint es als selbstverständlich, ihrer guten Freundin Polett beim „Selbstmord“ (TÜR 112) zu helfen, Viola und ihren Katzen eine Spritze zu geben, „wenn die Zeit gekommen ist“ (TÜR 122). Denn „[d]er Tod ist barmherziger als umherzuirren und ausgestoßen zu sein“ (TÜR 191). Umgekehrt wird die Person bestraft, die Emerencens Liebe nicht zu würdigen weiß, geschweige denn hintergeht.

Schlussendlich ist auch Magda diejenige, die „den Rahmen ihres Lebens […] zerstört“ (TÜR 234). Als Emerenc sich aus der Gemeinschaft zurückzieht, empfindet Magda „kein Mitleid, kein Erschrecken, sondern einfach Wut“ (TÜR 206). Sie fühlt sich abermals zurückgewiesen. Zwei Wochen wird Emerenc nicht mehr gesehen, das von den Nachbarn vorbeigebrachte Essen von ihr nicht angerührt und ein „stechender Geruch“ (TÜR 209) geht von der Wohnung aus, sodass Magda keinen anderen Ausweg erkennt, als sie dort mit Gewalt herauszuholen. Statt jedoch selbst die Tür einzubrechen, um Emerencens Geheimnis zu wahren, lässt sie dies von anderen übernehmen und fährt selbst davon. Im Zuge dessen lässt Magda zu, dass Emerenc „bloßgestellt und entehrt“ (TÜR 234) wird. Obwohl Magda sich ihrer Schuld bewusst ist, verrät sie Emerenc ein zweites Mal an die Liebe und ihre Menschenwürde.

Nach Tagen des Vortäuschens einer „Amnesie“ (TÜR 256) traut sich Emerenc, nach ihren Katzen und dem Zustand ihres Hauses zu fragen. Doch ungeachtet von der Tatsache, dass Emerenc äußerst gefasst diese Frage stellt, vermeidet Magda ihr die Wahrheit zu sagen, um sie vor dem Tod zu schützen. Angesichts des „menschlichen und tierischen Unflat[s]“ (TÜR 222) müssen alle privaten Dinge und Wertsachen verbrannt werden. Doch mit der Zerstörung ihres einzigen Zuhauses wird Emerencens auch ihrer Identität beraubt. Ihre Vorstellung von Liebe, dass „der Tod […] barmherziger als umherzuirren und ausgestoßen zu sein“ (TÜR 191) ist, hat Magda letztendlich nicht begriffen, obwohl ein „vager Verdacht“ (TÜR 219) keimt.

Während Magda sich zu Anfang ungeliebt und nicht toleriert fühlt, ist es nun Emerenc, die im Glauben stirbt, dass Magda sie nie geliebt hat.

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Dima Pechurin auf Unsplash


[1] Vgl. Eva Haldimann: Magda Szabós Romanwelten, in: Magda Szabó: Hinter der Tür. Frankfurt am Main/Leipzig 1992, S.305-311, hier S.308.
[2] Textgrundlage der folgenden Aufführung ist: Magda Szabó: Hinter der Tür, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,TÜR‘ und Seitenangabe.
[3] Vgl. Kerstin Istvanits: Die Jugendromane von Szabó Magda – Álarcosbál (Maskenball) & Abigél (Abigail) (Magisterarb. Universität Wien 2010, Msschr.), S. 66.

(K)eine Literaturverfilmung – Zur Analyse einer Filmadaption

Dass kein Buch 1:1 in einen Film umgesetzt werden kann, da in beiden Medien das Zeichensystem und die einhergehende semiotische Differenz berücksichtigt werden müssen, ist heutzutage verstanden. Allerdings wird es noch nicht begriffen: Für viele habe sich der Film in ästhetischen Normen immer noch der Literatur anzupassen.[1] Während sich die schriftliche Lektüre verbalsprachlich ausdrückt, wird die Erzählung im Film audiovisuell illustriert. Somit unterliegt der Film anderen ästhetischen Konventionen sowie technischen Bedingungen als das Buch.[2] Aufgrund des unzulänglichen Begriffs Literaturverfilmung, der insbesondere eine externe Zuschreibung darstellt, versucht sich die Literaturwissenschaft an einen neuen Begriff. Die deutsche Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider definiert die Literaturverfilmung beispielsweise als Transformation von einem Zeichensystem zu einem anderen. Als alternativer Begriff ist aber auch die Adaption zu nennen, die sich der schriftliterarischen Vorlage anpasst.[3]

Nach dem deutschen Literaturhistoriker Helmut Kreuzer gibt es vier Arten der Literaturadaption: Bei der Aneignung von literarischem Rohstoff werden lediglich Handlungselemente oder Figuren aus der Buchvorlage übernommen. Überdies werden diese dann in einen autonomen Filmkontext umgesetzt. Die zweite Adaptionsart repräsentiert die Illustration, die bebilderte Literatur. Neben der Übernahme von Figurenkonstellation und wörtlichem Dialog, versucht sich der Drehbuchautor so weit wie im neuen Medium möglich, an den Handlungsvorgang zu halten. Allerdings darf die Illustration nicht mit der Vorstellung von Werktreue gleichgesetzt werden. So wirkt das für die Lektüre geschriebene Wort im Lesekontext anders als im Film. Als dritte Art ist die interpretierende Transformation zu nennen. Dafür wird zunächst die Aussage und dessen Wirkung aus der Textvorlage interpretiert. Anschließend wird der schriftliche Text in filmische Codes übersetzt, um ein analoges Werk zu generieren. Die letzte Art der Literaturadaption meint die Dokumentation, in dem unter anderem Theateraufführungen aufgenommen werden. Schlussendlich ist festzuhalten, dass sich die Filmadaption selten einer Reinform bedient, sondern sich aus verschiedenen Arten zusammensetzt.[4]

Bei der Transformation beziehungsweise Adaption von der Lektüre zum Drehbuch liegt der Schwerpunkt auf den Prozess der Umsetzung, der jedoch drei Beeinträchtigungen mit sich bringt. Erstens ist der Film im Gegensatz zum Buch nicht durchgehend in der Lage, die Innenwahrnehmung beziehungsweise subjektive Meinung einer Figur darzustellen, sodass häufig eine Außensicht auf die erzählte Welt gewählt wird. Zweitens werden im Film maßgeblich mehr Bewegungen im Raum sowie der Zusammenhang der Gegenstände bestimmt. Während der literarische Erzähler es schafft, die Figur detailliert und kraftvoll in Szene zu setzen, beeinflussen Hintergrund, Gegenstände, Licht und Farbe das Bild. Die Figur tritt insofern als Teilelement auf. Als letztes muss darauf hingewiesen werden, dass das filmische Erzählen konkreter vonstatten geht als das literarische Erzählen. So hat die Kamera unter anderem die Aufgabe aus Unmengen von Dingen die Reizelemente herauszulösen, die das Publikum ausschließlich informieren sollen.[5]

Letztendlich besteht die Kunst der DrehbuchautorInnen darin, die Lektüre in seine Beschränkung und Vereinfachung auf das Wesentliche zu komprimieren, das zu definieren, was sie für wesentlich halten. Dabei sollte die Kunst des Unerwarteten und Ideenreichtums nicht außer Acht gelassen werden.[6] Somit wird die Adaption und Transformation zur Interpretationsbühne der DrehbuchautorInnen und RegisseurInnen. Anders als im Buch verlangt die Erschließung des Films eine Analyse der visuellen, auditiven und narrativen Ebene sowie von deren Zusammenspiel. Insofern etabliert sich eine eigene Filmgrammatik aus Bild, Ton und Montage.[7]

Text: Anna-Britt Nickel
Titelbild: Jon Tyson auf Unsplash


[1] Vgl. Michael Staiger: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, München 2010, S. 10-13.
[2] Vgl. ebd. S. 81-87.
[3] Vgl. ebd, S. 11f.
[4] Vgl. Helmut Kreuzer: Arten der Literaturadaption, in: Gast, Wolfgang (Hg.): Literaturverfilmung, Bamberg 1993, S.27-31, hier S. 27-30.
[5] Vgl. Thomas Koebner und Peter Ruckriegl: Literaturverfilmung, in: Koebner, Thomas (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 410-413, hier 410f.
[6] Vgl. Michel Chion: Techniken des Drehbuchschreibens, Berlin 2001, S. 102.
[7] Vgl. Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: Die Filmerzählung. Eine Einführung, Paderborn 2016, S. 166f.